Die Angst vor der Atommacht
Es gibt Namen und Orte, die für Gräuel stehen. Die französische Ortschaft Oradour-surGlane beispielsweise, wo Soldaten der Waffen-SS im Jahr 1944 fast 650 Menschen ermordeten. Oder die ukrainische Schlucht Babyn Jar, wo 1941 mehr als 33 000 Juden von deutschen Soldaten erschossen wurden. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat innerhalb weniger Wochen dazu geführt, dass neue Ortschaften des Grauens wie Butscha und Mariupol in die Geschichte eingehen werden.
Die Bilder von getöteten Frauen und Kindern, von zerbombten Häusern treiben die westlichen Staaten mehr und mehr in ein Dilemma. Sie versagen den Menschen in der Ukraine die militärische Unterstützung, die sie in anderen Ländern dieser Erde geleistet haben, um Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern. Eine humanitäre Intervention in der Ukraine ist schlicht deshalb kein Thema, weil Russland eine Atommacht ist.
Der russische Angriff erschüttert die ohnehin fragile Friedensordnung weltweit. Welches Land dieser Erde wird künftig freiwillig auf Atomwaffen verzichten, wenn es keinem Militärbündnis wie der Nato angehört? Das Beispiel der Ukraine, die 1994 ihr Atomwaffenarsenal gegen Sicherheitsgarantien Russland überlassen hat, sendet an Länder wie Indien und Pakistan, aber natürlich auch an Iran und Nordkorea das Signal: Es lohnt sich, bis an die Zähne bewaffnet zu sein – mit nuklearen Sprengköpfen obendrauf.
Der Weltsicherheitsrat, der diesen Namen eigentlich nicht mehr verdient, schaut bei diesen Entwicklungen zum Schlechten handlungsunfähig zu. Doch das ist keine Folge der Zeitenwende, vielmehr blockierte die Vetomacht Russland schon immer alles, was nicht in ihrem Interesse lag. Aus russischer Perspektive ist das sogar verständlich.
Schlimm ist hingegen, dass die Europäer es nicht geschafft haben, sich so zusammenzuraufen, dass sie am Tisch der Großen respektiert, vielleicht sogar gefürchtet werden. Auch für dieses Versagen bezahlen die Menschen in der Ukraine jetzt den Preis.