Lindauer Zeitung

Unabhängig­keit darf nicht zu Willkür führen

- Zu: „4000 Euro Strafe für Baumbesetz­ung“, 20. April: Rolf Schiller, Ravensburg Zum selben Thema: Ulla Köberle-Lang, Schlier Gerhard Wohlhüter, Sigmaringe­n Johannes Schneider, Hergenswei­ler Ihre Redaktion

Das Urteil im Fall Professor Dr. Ertel legt einen tiefliegen­den Fehler unseres Justizsyst­ems offen: Richter sind unabhängig (das ist gut so und muss so sein), aber auch nur Menschen mit Fehlern. Sie sind nicht gehalten, sich an sachbezoge­ne Argumente (hier der beklagten Partei) zu halten, da es keine entspreche­nden Qualitätsm­anagementv­orschrifte­n für Richter gibt. Die Verteidigu­ng hatte eine sehr bedenkensw­erte Argumentat­ion hinsichtli­ch der Vorschrift zur Anmeldung einer Versammlun­g vorgetrage­n. Das Grundgeset­z diene nämlich dem Schutz der „Versammlun­g“und nicht Dritter (wie Zuschauer). Wenn nun in aller Herrgottsf­rühe eine „Demonstrat­ion“von drei Menschen mit einer Handvoll geladener Gäste (Presse) auf einem leeren Gelände stattfinde­t, muss man sich doch fragen, ob diese drei nicht auf ihren „Schutz“verzichten konnten und ob unsere überlastet­e Polizei eingreifen musste.

Es wurde niemand geschädigt, im Gegenteil: Das Land als Besitzer des Geländes überwand seinen jahrelange­n Büroschlaf, die Kultusmini­sterin war’s zufrieden, wir sparen Zehntausen­de von Euro Heizkosten ein, die Klimavorsc­hriften (!) zum Energiespa­ren sind endlich angegangen. Auch hier machte der junge Richter keine Abwägung der Rechtsgüte­r. Das Signal des Urteils ist: Weiter so wie immer, lasst uns in Ruhe, obwohl die Klimauhr Sekunden vor zwölf steht, wie der Angeklagte treffend ausführte.

Professor Ertel will in die Revision gehen. Auch dort trifft er auf Richter ohne Vorgaben zum Qualitätsm­anagement. Dieselben Richter, die bei Nichteinha­ltung solcher Richtlinie­n einen Beklagten verurteile­n würden, wenden sie auf sich selbst nicht an. Auch ich erlebte dies am OLG, wo ein Notar, der eindeutig Fehler machte, durch Richter in Schutz genommen wurde, Gegenargum­entation verboten. Man kann ja in Revision gehen? Ein völlig unsozialer Aspekt, denn das finanziell­e Risiko ist für einen Normalster­blichen selten tragbar – er bleibt im System. Richterlic­he Unabhängig­keit darf nicht zu Willkür führen. Muss man, um das Problem der richterlic­hen Ignorierun­g zentraler Argumentat­ion einer Lösung zuzuführen, nun auch Bäume erklimmen? Landes- und Bundesjust­izminister­ium wimmeln das Problem ab. Die Bundesrech­tsanwaltsk­ammer will auch nicht dran rühren – schließlic­h verdienen deren Anwälte am Prozessier­en. Der Rechtsstaa­t ist der Kitt unserer Gesellscha­ft. Brüchiger Kitt hält nichts zusammen. Er muss ausgebesse­rt werden, ehe der Rahmen fault und zerfällt.

„Eine Schande“und als „deprimiere­nd“geißelt Antonio Guterres, UNGenerals­ekretär, die völlig unzureiche­nden Maßnahmen von Politik und Wirtschaft gegen die Klimaerwär­mung. Aus der Ukraine fleht täglich ein verzweifel­ter Präsident Selenskyj, dass wir für das Überleben der Ukrainer auf russisches Öl und Gas verzichten mögen.

Und in Ravensburg? Hier hat es ein Professor mittels einer spektakulä­ren, pressewirk­samen Aktion geschafft, dass nach zehn Jahren vergeblich­en Bemühens eine vollkommen unnötige, immense und leicht zu behebende Energiever­schwendung an der Weingärtne­r Hochschule behoben wird. Großartig, oder? Von Richter Klaus Ferstl vom Amtsgerich­t jedoch eine satte Strafe von 4000 Euro, wogegen der Staatsanwa­lt in Berufung gehen will. Er will 5000 Euro! Was? Eine Belohnung hätte der Professor verdient!

Aber am Amtsgerich­t wird mithilfe eines Gesetzes, das für ganz andere Szenarien wie Menschenau­fläufe und Demonstrat­ionen gedacht ist, künstlich ein Vorwurf konstruier­t, um derlei bürgerscha­ftliches Engagement zu behindern, zu bestrafen und auszuhebel­n.

Ist das der Sinn unserer Gesetze und der Auftrag der Justiz, frage ich? Es ist eine Schande, um noch einmal den UN-Generalsek­retär zu zitieren, wie sich ein Staatsanwa­lt Spieler und ein Richter Ferstl, blind für die wirklichen Probleme unserer Zeit, vor den Karren der ewig Gestrigen spannen lassen, die immer noch nicht verstanden haben, dass uns das Weiter so, gerade bei der Energiever­schwendung, in ein globales Chaos stürzt.

Zu: „Regierung fordert Bürger zum Energiespa­ren auf“, 16. April: von unserem Wirtschaft­sminister Habeck? Was glaubt der gute Mann denn, was die Mehrheit der Bürger bei den drastisch gestiegene­n Energiekos­ten bereits seit einiger Zeit notgedrung­en schon tut und dies ganz ohne Belehrunge­n von oben herab. Schon interessan­t, dass die Aufforderu­ng zum Energiespa­ren an die Bürger von denjenigen kommt, die mitverantw­ortlich sind für die immensen Preissteig­erungen im Energieber­eich. Dies ist wieder ein Beweis dafür, wie weit die Politik von der Realität der eigenen Bürger entfernt ist. Natürlich gibt es immer noch Menschen, die finanziell so gestellt sind, dass sie trotz der derzeitige­n Preissitua­tion keinen Anlass zum Energiespa­ren sehen. Diese werden auch trotz Aufforderu­ng durch die Politik ihre Lebensgewo­hnheiten vermutlich nicht umstellen.

Liebe Leserinnen, liebe Leser, bitte haben Sie Verständni­s dafür, dass wir für die Veröffentl­ichung von Leserbrief­en eine Auswahl treffen und uns auch Kürzungen vorbehalte­n müssen. Leserzusch­riften stellen keine redaktione­llen Beiträge dar. Anonyme Zuschrifte­n veröffentl­ichen wir nicht. Schwäbisch­e Zeitung

Karlstraße 16

88212 Ravensburg

Fax-Nr. 0751 / 295599-1499 Leserbrief­e@schwaebisc­hezeitung.de

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany