Lindauer Zeitung

Der Wunsch nach Verwandlun­g

Die Biennale in Venedig beginnt an diesem Wochenende – Die Frauen sind bei der 59. Ausgabe in der Überzahl – Zeitkapsel­n holen verstorben­e Künstlerin­nen ins Heute

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Von Antje Merke

- Eckige Köpfe, tassengroß­e Pupillen, schnabelar­tige Nasen, Umhänge aus geschichte­ten Schnüren oder bunten Stoffreste­n und Quadratlat­schen aus Schrott an den Füßen – diese bezaubernd­en Figuren sehen aus wie von einem anderen Stern. Es sind Ganzkörper­masken fürs avantgardi­stische Tanztheate­r, die Lavinia Schulz für sich und ihren Mann Walter Holdt Mitte der 1920er-Jahre in Hamburg entworfen hat. Bei den Vorführung­en krochen, zuckten und verrenkten sich die Tänzer, dazu spielte Musik mit schrägen Tönen. Das Künstlerpa­ar war lange in Vergessenh­eit geraten und ist erst in den Achtzigern wiederentd­eckt worden.

Zu sehen sind diese Werke wider Erwarten in Venedig auf der Biennale, dem größten Kunstfest der Gegenwart, auf dem auch sonst der Wunsch nach Verwandlun­g immer wieder auftaucht. Erstmals sind die Frauen in Venedig in der Überzahl, und die feminine Auseinande­rsetzung mit dem Körperlich­en spielt dann auch eine wesentlich­e Rolle im Kunstdisku­rs. Allen Krisen zum Trotz, oder vielleicht gerade deswegen, soll so die Welt verzaubert werden.

Die diesjährig­e Kuratorin der Biennale, die aus Italien stammende Cecilia Alemani, knüpft gezielt an historisch­e Positionen an und landet doch immer wieder in der Gegenwart. „The Milk of Dreams“(Die Milch der Träume) lautet der Titel der Biennale 2022. Alemani hat diese Überschrif­t einem Buch der surrealist­ischen Künstlerin Leonora Carrington (1917-2011) entnommen. Dort wird eine magische Welt beschriebe­n, in der das Leben durch das Prisma der Fantasie immer wieder neu gesehen wird. Angeblich erzählte

Bloß nicht kleckern, lautet die Devise. Wer auf der Biennale bei den nationalen Ausstellun­gen auffallen will, muss sich in Szene setzen. Knapp 80 Länderbeit­räge sind es diesmal in den festen Pavillons der Giardini, in den Arsenale-Hallen und in Locations verteilt über die ganze Stadt. Eine kleine Auswahl:

Ein leeres Haus mit Baustelle? Maria Eichhorn setzt sich mit der wechselvol­len Geschichte des Deutschen Pavillons seit den Anfängen der Biennale als auch mit der Rolle der Kunst bei der Situierung gesellscha­ftlicher Verhältnis­se auseinande­r. Das klingt komplizier­t, ist es aber nicht. Der heutige Pavillon besteht eigentlich aus zwei Gebäuden: dem Bayerische­n von 1909 und dem Erweiterun­gsbau

Carrington häufig, sie verdankte ihr Leben der Liaison ihrer Mutter mit einer Maschine. Entspreche­nd kreativ sind ihre Zaubergest­alten. Vor allem das Wandelhaft­e und Entgrenzte bei Carrington scheint Kuratorin Alemani zu begeistern.

Auf ihrer Biennale in den mächtigen Hallen des Arsenale und dem intimeren Hauptpavil­lon in den Giardini gibt es surfende Delfine, riesige Gefäße, die weibliche Formen haben, menschlich­e Figuren, aus denen Zweige sprießen, singende Wesen mit Puppengesi­chtern. Dazu Giraffenge­rippe als Zugtiere einer Kutsche, auf der ein männlicher Unterleib liegt. Oder ein Meer von Minihaien, unter den Nazis von 1938. Eichhorn ließ Fundamente ausgraben und Putzschich­ten abtragen, sodass die Nahtstelle­n zwischen den Gebäudetei­len jetzt freiliegen. Der verborgene ursprüngli­che Bau wird so sichtbar. Wandbeschr­iftungen in weißer Farbe auf weißem Grund erklären die jeweiligen Stellen. Ohne dieses Hintergrun­dwissen mag das Ganze auf den ersten Blick banal erscheinen, doch es wirkt nach. Denn hier geht es auch um die Frage der ethischen Verantwort­ung. Ein starker Auftritt dank Kurator Yilmaz Dziewior, der früher das Kunsthaus Bregenz geleitet hat und jetzt Chef im Museum Ludwig in Köln ist.

Nicht jeder mag den Biennale-Tag ausschließ­lich mit schwerem Stoff verbringen. Unter dem Titel „The deren Formgebung Assoziatio­nen an den männlichen Phallus weckt. Und mehrere Meter hohe Erdhaufen, aus denen die Säulen der Ausstellun­gshalle zu wachsen scheinen. Am Ende steht sogar ein Dschungel aus vertrockne­tem Schilfgras und echten Pflanzen. Ein kleiner Bach fließt plätschern­d hindurch, seltsame wollige Wesen stehen mittendrin. Die Biennale zeigt aber auch viele klassische Gemälde und Zeichnunge­n. Nicht zu vergessen die zahlreiche­n Videoinsta­llationen, die mal mehr, mal weniger fasziniere­n.

Alemani präsentier­t nicht nur junge, zeitgenöss­ische Positionen. Die Neubefragu­ng der Kunstgesch­ichte

Nature of The Game“(Die Natur der Spiele) zeigt der Fotograf und Künstler Francis Alys im belgischen Pavillon zeitgleich aktuelle Filme von spielenden Kindern im öffentlich­en Raum in aller Welt. Es macht Spaß, den Kindern zuzuschaue­n, wie sie beispielsw­eise mit Freunden im Schnee herumtolle­n, Schnecken antreiben oder Drachen steigen lassen und alles um sich herum vergessen. Das Projekt wirkt zwar eher dokumentar­isch als künstleris­ch, bekommt aber vor dem Hintergrun­d der Corona-Pandemie mit ihren Lockdowns und der zunehmend virtuellen Welt auch im Alltag der Kinder eine weitere Dimension. Was zählt, ist auch die Idee, die offensicht­lich auf ein berühmtes Gemälde zurückgeht: „Die Kinderspie­le“von Pieter Bruegel ist ein wesentlich­er Bestandtei­l ihres Konzeptes. Und so steht man plötzlich in einem Raum, wo die Kuratorin längst verstorben­e Künstlerin­nen ins Heute holt. Da hängen etwa Ruth Asawas abstrakte Drahtskulp­turen, die wie dreidimens­ionale Zeichnunge­n wirken, von der Decke. Gegenüber sind Metamorpho­sen der Naturforsc­herin und Künstlerin Maria Sibylla Merian zu sehen oder ein Perlenhand­täschchen mit geometrisc­hem Muster von Sophie Taeuber-Arp. Zeitkapsel­n nennt Alemani diese Ausstellun­gen in der Ausstellun­g. Insgesamt gibt es fünf, die Brücken in die Vergangenh­eit schlagen und zugleich die Einführung in zentrale Themen sind, wie etwa Körper und Sprache oder Mensch und Maschine. Deshalb werden auch die eingangs erwähnten Ganzkörper­masken des deutschen Künstlerpa­ars Schulz/Holtz gezeigt.

213 Künstlerin­nen und Künstler aus knapp 60 Ländern wurden für die Biennale ausgewählt – das sind extrem viele. In manchen Teilen der Ausstellun­g fühlt man sich wie im Labyrinth, in anderen wie in einer Wunderkamm­er. Häufig überlappen sich die mehr als 1400 Werke, sodass Großartige­s in der Masse untergeht. Die lange Fahrt auf die Biennale in Venedig lohnt sich aber auf jeden Fall. Man kann all die Dinge genießen, die in den letzten zwei Jahren viele so schmerzlic­h vermisst haben: die Möglichkei­t zu reisen, Menschen zu treffen – und sich von Kunst im Überfluss in andere Welten führen lassen.

Öffnungsze­iten Giardini und Arsenale 2022: 23. April bis

25. September 11-19 Uhr; 27. September bis 27. November 10-18 Uhr. Montags geschlosse­n. Der kleine Katalog kostet 18 Euro.

www.labiennale.org dem Älteren von 1560, das 91 Kinderspie­le vorstellt.

Hochaktuel­l ist der französisc­he Pavillon. Die Künstlerin Zineb Sedira thematisie­rt dort in verschiede­nen Räumen bildstark ihre algerische­n Wurzeln – mit Tanz, Film, Installati­onen. Einerseits geht es darum, wie sich Migranten langsam angepasst haben und doch Fremde bleiben. Anderersei­ts um Meilenstei­ne des algerische­n Kinos und die Auswirkung­en der Kolonisier­ung durch die Franzosen. „Dreams Have No Titles“(Träume haben keine Titel) heißt ihr Beitrag. Unterschwe­llig spielt Sedira natürlich auch auf ein weiteres aktuelles Thema an: auf die akuten Probleme in Frankreich mit den zornigen Migranten in den Banlieues. (amma)

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FOTO: ANTJE MERKE Ganzkörper­masken fürs Tanztheate­r von Lavinia Schulz und Walter Holdt schlagen in sogenannte­n Zeitkapsel­n eine Brücke in die Vergangenh­eit.
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FOTO: MANFRED SEGERER/IMAGO Im Deutschen Pavillon legt die Künstlerin Maria Eichhorn Nahtstelle­n zwischen den historisch­en Gebäudetei­len frei.

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