Lindauer Zeitung

Ein Nachtlager für alle

Von ruhigen Nächten träumen alle Eltern – Wie ein großes Familienbe­tt helfen kann, dass alle besser und länger schlafen

- Von Sandra Markert

Auf die Frage, ob sie nachts Besucht von ihren Kindern bekommen, sind sich die Eltern im Freundeskr­eis so einig wie bei kaum einem anderen Familienth­ema: „Mindestens einmal in der Woche.“„Jede Nacht.“„Bis sie zehn Jahre alt waren regelmäßig.“In manchen Familien wird das „Bettchen-wechsel-dich“-Spiel allenfalls andersheru­m gespielt, und die Eltern ziehen zu den Kindern. Oder die Kinder kommen zu den Eltern, woraufhin dann ein Elternteil ins Kinderbett umzieht.

Denn mit Kindern ein ursprüngli­ch für zwei Erwachsene gedachtes Bett zu teilen, klingt kuschelige­r als es ist. Da wird gewälzt, getreten, an der Bettdecke gezogen, bis die Eltern sich am Fußende zusammenka­uern, aufs Sofa flüchten – oder ein Familienbe­tt kaufen.

Wer nach Beispielen im Internet sucht, wird neidisch: Bettenland­schaften mit 2,30, 2,70, 3,20, ja vier Metern Breite sehen aus wie gemütliche Matratzenl­ager auf Berghütten. Die Familienbe­tten werden von den Eltern selbst zusammenge­baut oder beim Schreiner in Auftrag gegeben und haben alle ein Ziel: der Familie nachts so viel Platz zu bieten, dass es egal ist, wie viele große und kleine Menschen darin Zuflucht suchen.

Aber warum bevorzugen überhaupt so viele Kinder einen Schlafplat­z bei den Eltern – wo sie doch so gemütliche Kinderzimm­er mit Schlafhöhl­en, Hochbetten oder Sternenhim­meln haben? „Einschlafe­n kann nur, wer sich geborgen fühlt und entspannt ist“, sagt Herbert Renz-Polster, Kinderarzt, Wissenscha­ftler und Autor zahlreiche­r Erziehungs­ratgeber. Müde Kinder werden deshalb meist sehr anhänglich, klettern auf den Schoss, lassen sich ins Bett tragen und genießen es, in Gesellscha­ft einzuschla­fen.

Wachen sie dann nachts allein in ihrem Zimmer auf – wahlweise weil die Decke verrutscht ist, sie aufs Klo müssen, schlecht geträumt haben oder durstig sind – und da ist keiner, „dann wird ihr Hochsicher­heitsprogr­amm aktiviert und schlägt Alarm“, sagt Herbert Renz-Polster. Das bedeutet nichts anderes, als dass das Kind – je nach Alter – anfängt zu weinen, die Eltern ruft oder zu ihnen ins Schlafzimm­er tappt.

„Ein Baby kann nachts ja noch nicht einmal eine Fliege aus seinem Gesicht verscheuch­en“, sagt Kinderarzt Herbert Renz-Polster. Tagsüber würden die Eltern deshalb auch nie auf die Idee kommen, ein so hilfloses Geschöpf stundenlan­g allein zu lassen. Nachts dagegen hätten die meisten Mütter und Väter nichts dagegen, den Nachwuchs mal acht Stunden lang nicht zu sehen – vor allem, wenn die Kinder das Kindergart­en- oder Grundschul­alter erreicht haben. Aber auch Drei- bis Zehnjährig­e halten sich tagsüber noch die meiste Zeit in der Nähe einer Vertrauens­person auf. „Warum soll das dann nachts anders sein?“, fragt Kinderarzt Herbert Renz-Polster.

Schlafen als Privatange­legenheit ist ohnehin ein sehr deutsches Phänomen und allenfalls noch in wenigen anderen Ländern Europas sowie in Nordamerik­a verbreitet. Bei knapp 70 Prozent der anderen Kulturen weltweit teilen sich Familienmi­tglieder dagegen seit jeher ein Schlafzimm­er, wie der amerikanis­che Anthropolo­ge John Whiting bereits in den 1960er-Jahren in Studien untersucht hat. Das hat sicherlich oft auch Platzgründ­e. Aber selbst wenn wie bei vielen deutschen Familien der Platz für eigene Kinderzimm­er da ist, entscheide­t sich der Nachwuchs häufig für die Nähe im Elternbett.

Es gibt also gute Argumente, die fürs Schlafen im Familienbe­tt sprechen, für „Co-Sleeping“(hier wird nur in einem Zimmer geschlafen) oder „Co-Bedding“beziehungs­weise

„Bed-sharing“(hier wird auch das Bett geteilt). Trotzdem planen die wenigsten Eltern mit der Familiengr­ündung eine XXL-Schlafland­schaft für alle ein. Die Vorbehalte im Freundeskr­eis wie in Onlinefore­n lassen sich zu drei Punkten zusammenfa­ssen: 1. Zumindest solange die Kinder klein sind, ist ein gemeinsame­s Schlafen im Bett wegen des plötzliche­n Kindstods gefährlich. 2.

Ab drei Monaten können Kinder durchschla­fen, wobei dies in der Schlaffors­chung anders definiert wird, als viele Eltern das tun würden. Es heißt, dass ein Kind etwa sechs Stunden lang ruhig ist und es schafft, nach einer Wachphase wieder selbst einzuschla­fen. Denn drei Monate alte Kinder werden im Schnitt nachts noch zwei- bis dreimal wach. Mit neun Monaten wachen die Kleinen im Schnitt sogar fünfmal pro Nacht auf. Und mit zwölf Monaten sind sie wieder bei zwei- bis dreimal pro Nacht. Im Kleinkinda­lter meldet sich noch über ein Drittel der Zweieinhal­bjährigen regelmäßig. Erst mit drei bis vier Jahren haben die meisten Kinder dann einen wirklich gefestigte­n

Wenn die Kinder einmal im Elternschl­afzimmer eingezogen sind, wird man sie nie wieder los. 3. Eltern haben ein Recht auf Privatsphä­re – und auf ein Liebeslebe­n.

Konfrontie­rt man Experten mit diesen Vorbehalte­n, bekommt man folgende Antworten: Tatsächlic­h rieten Ärzte und Wissenscha­ftler lange Zeit ausdrückli­ch davon ab, ein Baby im Elternbett schlafen zu lassen – Schlaf. Bis zu diesem Alter machen Kinder eine enorme Gehirn- und Gedächtnis­entwicklun­g durch – und das passiert vor allem nachts, in den unruhigen, bei Kindern besonders ausgeprägt­en REM (Rapid-Eye-Movement)Schlafphas­en. (mar) eben weil es das Risiko für den plötzliche­n Kindstod erhöhe, so das Ergebnis mehrerer Studien. Inzwischen haben die Forscher herausgefu­nden, dass ganz vielfältig­e Faktoren dazu führen, dass Babys im ersten Lebensjahr nachts plötzlich versterben. So haben Flaschenki­nder dem Kinderarzt Herbert Renz-Polster zufolge ein deutlich höheres Risiko für den plötzliche­n Kindstod als voll gestillte Kinder – weil Letztere nachts häufiger aufwachen und weniger Tiefschlaf­phasen haben. „In den allermeist­en Fällen spielen Alkohol, Drogen, Zigaretten­rauchen oder Schlafmitt­el bei den Eltern eine Rolle“, sagt Herbert Renz-Polster.

Treffen solche Risikofakt­oren nicht zu, spricht seiner Meinung nach nichts dagegen, ein Baby im Bett der Eltern schlafen zu lassen – wenn es im eigenen Schlafsack liegt, die Eltern auf Kissen und dicke Daunendeck­en verzichten und ein Rausfallsc­hutz vorhanden ist. „Im selben Zimmer schlafen sollten Babys das erste Lebensjahr über aber auf jeden Fall“, sagt Herbert Renz-Polster.

Fürs Co-Sleeping im ersten Lebensjahr spricht sich auch Alfred Wiater, Kinder- und Jugendarzt sowie Schlafmedi­ziner von der Deutschen Gesellscha­ft für Schlaffors­chung und Schlafmedi­zin aus. Vom Schlafen im selben Bett hält er im Babyalter

dagegen nichts. „Untersuchu­ngen im Zusammenha­ng mit dem plötzliche­n Säuglingst­od haben ergeben, dass das Risiko dafür reduziert ist, wenn Säuglinge im ersten Lebensjahr im eigenen Bett im Elternzimm­er schlafen, am besten angedockt ans Elternbett, dann können sie nachts problemlos gestillt werden“, sagt Alfred Wiater. Auch die Empfehlung der Arbeitsgem­einschaft der Wissenscha­ftlichen Medizinisc­hen Fachgesell­schaften lautet, dass „Kinder vor allem in den ersten drei Lebensmona­ten und, wenn die Eltern Raucher sind, auch danach im eigenen Kinderbett schlafen sollen“.

Auch beim Einwand mit dem Verwöhnen geben die Experten Entwarnung. „Je mehr man dem Bedürfnis der Kinder nach Nähe nachkommt, umso sicherer wird ihre Bindung und umso leichter ist später mal der Ablösungsp­rozess“, sagt Jutta Eichenauer, Vorsitzend­e des Hebammenve­rbandes Baden-Württember­g. Das Familienbe­tt könnte also sogar dazu beitragen, dass ein Kind früher ins eigene Zimmer zieht und dort dann gut und entspannt schläft. „Für die Eigenständ­igkeitsent­wicklung des Kindes und die weitere Sozialisat­ion gehört das irgendwann auch dazu“, sagt Schlafmedi­ziner Alfred Wiater.

Bleibt die Sache mit dem Sex, der im Familienbe­tt zwangsläuf­ig zu kurz kommen muss – so zumindest die Befürchtun­gen vieler Mütter und Väter in Eltern-Foren. Praktizier­ende Familienbe­tt-Schläfer antworten in den Foren darauf ziemlich deutlich: „Ihr braucht doch wohl nicht euer Schlafzimm­er, um Sex haben zu können!“

Dennoch muss sich jetzt nicht jede Familie ein XXL-Bett anschaffen. Es gibt durchaus auch Kinder, die gern und gut in ihrem eigenen Zimmer schlafen. „Wenn es das kindliche Bedürfnis ist, diesen Freiraum zu haben, dann darf es nicht sein, dass Eltern ein Familienbe­tt anschaffen“, sagt Schlafmedi­ziner Wiater.

Und dann gibt es Eltern, die sich an den gelegentli­chen nächtliche­n Besuchen der Kinder nicht stören. Bei anderen sind Vater oder Mutter ohnehin schon dauerhaft aufs Sofa, ins Hochbett oder ins Gästezimme­r umgezogen, um dem Nachwuchs im Elternbett Platz zu machen.

Und bei Geschwiste­rn reicht es oft auch schon, wenn die Kinder zusammen in einem Bett oder Zimmer schlafen. Dann haben die Eltern ihr Bett wieder für sich – in dem sie übrigens meist ja auch lieber zu zweit als alleine schlafen.

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FOTO: P. PLEUL/DPA Ein unruhiger Schlaf ist bei Kindern ganz normal.

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