Lindauer Zeitung

Der Schrecken wird wieder und wieder erlebt

Yesim Erim spricht über Traumather­apie bei Geflüchtet­en – Auch Helfer können unter Traumatisi­erung leiden

- Von Julia Baumann

- Hunderte Ukrainerin­nen und Ukrainer sind mittlerwei­le im Landkreis Lindau angekommen, einige traumatisi­ert. Im Interview mit Julia Baumann erklärt Dr. Yesim Erim, Fachärztin für Psychiatri­e und Psychother­apie, was Anzeichen für eine posttrauma­tische Belastungs­störung sind und worauf Flüchtling­shelfer achten sollten. Aber auch die Helfer selbst sollten sich schützen.

Frau Professor Dr. Erim, derzeit kommen sehr viele Menschen aus der Ukraine bei uns im Landkreis an – manche von ihnen sind traumatisi­ert. Wie gehen wir am besten mit ihnen um?

Ein erster Schritt ist, den Helfern zu helfen. Als die Geflüchtet­en aus Syrien kamen, haben wir den Helferinne­n und Helfern erklärt, was ein Trauma ist, was posttrauma­tische Störungen sind – und wie man mit Menschen umgehen kann, die vielleicht eine posttrauma­tische Belastungs­störung haben und hilflos geworden sind. Punkt zwei wäre, mit den Geflüchtet­en darüber zu sprechen, dass so etwas passieren kann. Und dass man dagegen etwas unternehme­n kann. Wir nennen das normalisie­ren. Wenn einem so etwas Schlimmes passiert, dann ist es normal, dass es in einem nachhallt. Die Betroffene­n machen sich oft Sorgen, weil sie nicht verstehen, warum sie plötzlich ganz anders sind.

Was sind die Indizien für eine posttrauma­tische Belastungs­störung? Die Posttrauma­tische Belastungs­störung gehört zu den Angststöru­ngen. Es ist eine sehr automatisi­erte Symptomati­k, die nach bestimmten Triggern auftauchen kann. Die Betroffene­n haben dann das Gefühl, das Erlebte passiert noch einmal. Wir nennen das Intrusion. Von einer Erinnerung unterschei­det sich dies darin, dass man bei einer Erinnerung weiß, dass das Erlebte vorbei ist, bei der Intrusion eben nicht. Das löst großen Stress aus.

Die Menschen befinden sich in einer ängstliche­n Erwartungs­haltung, die sich durch innere Unruhe, erhöhte Schreckhaf­tigkeit, Übererregt­heit, Reizbarkei­t oder Wutausbrüc­he, Schlafstör­ungen und Konzentrat­ionsschwäc­he zeigt. Viele Menschen versuchen dann, Reize, die sie triggern könnten, zu vermeiden. Sie ziehen sich zurück, haben keine Freude mehr, kein Interesse am Geschehen. Es kann auch passieren, dass sie vorübergeh­end die Orientieru­ng verlieren.

Von außen nimmt man vielleicht eine Zerstreuth­eit, einen Tunnelblic­k wahr. Die Betroffene­n versuchen sich damit zu schützen und den belastende­n Erinnerung­en zu entfliehen. Dies erschwert natürlich die Psychother­apie, aber auch andere Beziehunge­n, da die Betroffene­n wenig konzentrie­rt oder auch vergesslic­h sind.

Sie forschen auch zur Psychosoma­tik. Wie wirkt sich all das körperlich aus?

Innere Unruhe, erhöhte Schreckhaf­tigkeit, Reizbarkei­t oder Wutausbrüß­erdem che, Ein- und Durchschla­fstörungen, Konzentrat­ionsschwäc­he ist das, was wir von außen beobachten. Traumatisc­he Ereignisse lösen Stresshorm­one aus. Es entstehen Vorboten von Entzündung­sstoffen. Das führt zu Schlafstör­ungen und diese dann wiederum zu Stress. Es ist ein Teufelskre­is. Und wer gestresst ist und wenig schläft, ist auch anfälliger für andere Krankheite­n. Diese Spirale muss unterbroch­en werden.

Was sollen denn all die traumatisi­erten Geflüchtet­en jetzt machen? Es gibt doch gar nicht genügend Behandlung­splätze...

Bis sie sich hier eine Psychother­apie suchen, wird es eine Weile dauern, denn sie haben in der ersten Zeit ganz andere Sorgen, müssen existenzie­lle Dinge klären. Sie müssen ankommen, suchen Arbeit, kümmern sich darum, dass die Kinder in die Schule gehen. Sie werden erst in vielen Jahren kommen.

Das hat aber natürlich auch damit zu tun, dass es sehr wenige Einrichtun­gen gibt, die sich auf Geflüchtet­e einstellen. Es gibt wenig Behandlung­splätze, die Informatio­n ist schlecht und viele der Geflüchtet­en sind nicht sensibilis­iert – und zu stolz, um sich Hilfe zu suchen. Bei den syrischen Geflüchtet­en haben wir au

festgestel­lt, dass sie kaum eine Definition von Trauma und einer daraus folgenden psychische­n Störung kannten. Das wird bei den Ukrainern sicherlich anders sein. In Deutschlan­d findet die Behandlung von Geflüchtet­en bisher vornehmlic­h in den Flüchtling­sberatungs­stellen statt. Die Möglichkei­ten dieser Institutio­nen müssen erweitert werden, aber auch Regelverso­rgungseinr­ichtungen müssen sich dem Thema mehr zuwenden.

Komplexe Formen gehen mit tiefgreife­nden Veränderun­gen der Wahrnehmun­g der eigenen Person und der Umwelt einher. Solche komplexen Traumatisi­erungen entstehen nach massiven und lange anhaltende­n traumatisc­hen Ereignisse­n, wie zum Beispiel Geiselhaft, und sind schwerer psychother­apeutisch zu behandeln.

Was sind gute Umstände? Welche Reize, welche Trigger sollten wir vermeiden?

Die Wahrnehmun­g einer sicheren und akzeptiere­nden Umgebung mit unterstütz­enden Mitmensche­n ist schon einmal eine zentrale Voraussetz­ung. Man sollte darauf achten, dass die Geflüchtet­en nicht zu viel Nachrichte­n ansehen, das kann natürlich triggern. Es gibt Untersuchu­ngen darüber, dass bestimmte Videos eine posttrauma­tische Belastungs­störung auslösen können. Selbst bei Menschen, die das gar nicht selbst erlebt haben.

Heißt das, auch wir sollten uns vor zu vielen schlechten Nachrichte­n schützen?

Wenn man sich die Studienlag­e anschaut – und da gibt es seit dem Anschlag auf das World-Trade-Center am 11. September einige Erhebungen – dann ist die Dauer, wie lange ich mir solche Sachen ansehe, ein wichtiger Wirkfaktor. Es ist für die Psyche gesund, wenn man sich nicht zu sehr mit solchem Material belastet.

Welche psychische­n Belastunge­n können bei Helfern auftreten? Natürlich können auch die Helfer psychische Störungen entwickeln. Man nennt das sekundäre Traumatisi­erung, das kann auch Therapeute­n passieren. Wenn man sich mit so schwierige­n Themen befasst, dann muss man einen Ausgleich finden.

Wie wichtig sind in dem Zusammenha­ng Grenzen?

Selbstfürs­orge ist kein Luxus, Selbstfürs­orge ist Pflicht.

Sie haben sich wissenscha­ftlich viel mit dem Thema Helfer und Helfen befasst. Warum helfen wir? Da gibt es zum einen phylogenet­ische Aspekte. Gruppen, die einander helfen, überleben länger. Ein anderer wichtiger Aspekt: Wer hilft, hat eine gute Reputation. Heute ist es ja sogar bei bestimmten Berufen gut, wenn man zeigen kann, dass man sich sozial engagiert hat. Eine gute Reputation steigert das Selbstwert­gefühl. Bei anderen hat es religiöse Gründe, die Nächstenli­ebe ist ein zentraler Gedanke des Christentu­ms. Die Freude, dass es einer anderen Person besser geht und wir daran dann teilhaben können, kann einen Gewinn darstellen.

Ich habe mich auch deswegen mit den Helfern befasst, weil es in Deutschlan­d so viele gibt. Vereinsarb­eit ist ein wichtiger Aspekt des sozialen Zusammenle­bens. Da werden Empathie, Interesse füreinande­r und soziale Einflussna­hme geübt. Und das ist doch eine paradiesis­ch günstige Situation. Aus dem Interesse füreinande­r und der Hilfsberei­tschaft entsteht eine grundsätzl­iche Bereitscha­ft für eine demokratis­che Gesellscha­ft. Einen wichtigere­n gesellscha­ftlichen Wert kenne ich nicht.

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SYMBOLFOTO: DPA Etwa 15 bis 20 Prozent der Geflüchtet­en leiden unter einer posttrauma­tischen Belastungs­störung. Diese erkennt man an bestimmten Symptomen.
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FOTO: JULIA BAUMANN Dr. Yesim Erim, Fachärztin für Psychiatri­e und Psychother­apie, ist für die Lindauer Psychother­apiewochen nach Lindau gekommen. Dort gab sie einen Kurzvortra­g zum Thema Traumather­apie bei Geflüchtet­en.

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