„Eine möglichst große und zusammenhängende Fläche wäre die beste Variante.“
- Neben einer Latschenkiefer taucht ein Kopf mit Knopfaugen aus dem Heidekraut auf. Das Tier mit dem sandfarbenen Fell setzt sich auf die Hinterbeine, reckt sich in die Höhe und nimmt aus sicherer Distanz die Wanderer in den Blick. Bis es das Interesse verliert und von dannen trottet. Ein Fuchs? Vielleicht ein junger Luchs? „Das war wahrscheinlich ein Baummarder“, sagt Urs Reif. „Da hatten wir gerade großes Glück.“Er muss es wissen: Der Biologe ist Chefranger im Nationalpark Schwarzwald, dem einzigen Schutzgebiet dieser Art in BadenWürttemberg. Er hofft darauf, dass die Landesregierung ihr Versprechen wahr macht und den Park erweitert. Einfach wird das aber nicht.
Die Gründung des Schutzgebiets im Nordschwarzwald war eine schwere Geburt mit vielen Kompromissen. Für die damalige grün-rote Landesregierung war es ein Herzensanliegen. Die Natur sollte großflächig sich selbst überlassen sein – für mehr Artenvielfalt und Biodiversität. Die Mehrheit der Anwohner und die regional wichtige Holzwirtschaft wehrte sich indes lautstark und vehement. Viele sorgten sich um den Verlust von Arbeitsplätzen, um Einschränkungen bei der Waldnutzung, um Zerstörung der umliegenden Wälder durch den Borkenkäfer, der sich im Park nach Belieben vermehren darf.
Trotz allem hat Baden-Württemberg seit 2014 seinen ersten Nationalpark. Die gut 10 000 Hektar Fläche – die Mindestgröße für einen Nationalpark – verteilen sich auf zwei Gebiete, die durch einen mehrere Kilometer breiten Streifen voneinander getrennt sind. Diese Teilung bezeichnete Ex-EnBW-Chef Gerhard Goll als Vorsitzender des Nationalparkbeirats einige Jahre später als „Geburtsfehler“. „Die Zweiteilung war von Anfang an kleinkariert und ein Murks“, schrieb das CDU-Mitglied in einem Brief an Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne).
In der Gründungszeit des Nationalparks war Golls Partei in der Opposition im Landtag und stemmte sich gegen das grün-rote Projekt. Nun regiert die CDU in der zweiten Legislaturperiode mit den Grünen. Im Koalitionsvertrag haben sich die Partner vor einem knappen Jahr dazu bekannt, den Nationalpark Schwarzwald weiterzuentwickeln – und zu erweitern. Vor allem der Trennstreifen ist im Fokus, der sich von der Schwarzwaldhochstraße im Westen bis zum Fluss Murg im Osten zieht.
Der Wald dort gehört zum Großteil der Murgschifferschaft – einer Genossenschaft, deren Geschichte ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Mehr als die Hälfte ihrer Waldflächen, nämlich 2900 der knapp 5500 Hektar, liegen zwischen den Nationalparkteilen diesseits der Murg. Zweck der Genossenschaft ist die Nutzung des Waldes. Er liefert Holz, das die Genossenschaft verkauft und damit Gewinne erzielt. Von Flächenstilllegungen hält die Murgschifferschaft entsprechend wenig. Obwohl das Land die absolute Mehrheit der 100 000 Genossenschaftsanteile besitzt, kann es nicht die Geschicke bestimmen. Seine Stimme ist im Verwaltungsrat genauso viel wert wie die der anderen Mitglieder.
Aus Naturschutzsicht sollten die Teile aber zu einem Ganzen zusammenwachsen. Nationalparkleiter Thomas Waldenspuhl will dem politischen Prozess nicht vorgreifen, wie er sagt. „Eine möglichst große und zusammenhängende Fläche wäre aber aus naturschutzfachlicher Sicht die beste Variante – je diverser die Landschaft und je größer die geschützte Fläche insgesamt, desto mehr Biodiversität dürfen wir erwarten, desto geringer die Empfindlichkeit bei äußeren Ereignissen wie Stürmen.“Das betont auch Chefranger Reif: Es brauche viel zusammenhängende Fläche mit möglichst wenig Randstreifen. „Ökologisch wäre das am sinnvollsten“, sagt er. So hätten die verschiedensten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten die Möglichkeit, sich auszubreiten und in Ruhe neue Lebensräume
Thomas Waldenspuhl,
Leiter Nationalpark
zu finden.
In Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) haben sie wenig überraschend eine Fürsprecherin. „Je größer und kompakter die Kernzonen beziehungsweise das Schutzgebiet ist, umso geringer fallen störende Randeffekte ins Gewicht“, betont eine Sprecherin Walkers. „Und je länger sie sich ungestört entwickeln können, desto eher können die Vorkommen von seltenen, gefährdeten und oft hochspezialisierten Arten gesichert werden.“Von diesen gibt es einige im Nationalpark: vom Dreizehenspecht und dem stark gefährdeten Auerhuhn, über das Grüne Koboldmoos und seltene Insekten bis hin zum Sensationsfund: der Zitronengelben Tramete. Eine Pilzart, die den Biologen Kretschmann zum Schwärmen bringt.
Wie und wohin sich der Schwarzwälder Urwald nun entwickeln darf – darum ringen aktuell Walker und Forstminister Peter Hauk (CDU). Beide betonen, dass die Gespräche am Anfang stünden, dass eine fachliche Weiterentwicklung im Vordergrund
stehe und dass auch die Bürger ein Wörtchen mitreden sollen. Eine Umfrage durch das Meinungsforschungsinstitut Forsa ist laut Umweltministerium zwar abgeschlossen, müsse aber noch ausgewertet werden. Außerdem soll demnächst ein Forum tagen, in dem zufällig ausgewählte Bürger aus dem ganzen Land und aus der Region rund um den Nationalpark beraten sollen.
Für Walter Dürr spielt die Bürgerbeteiligung keine Rolle. „Das kann man alles machen, den Prozess bestimmt das Land“, sagt der Betriebsleiter der Murgschifferschaft, „aber es ist Fakt: Wenn es zu einem Tausch kommen soll, muss sich das Land mit der Murgschifferschaft einigen. Da ist es irrelevant, was bei einer Umfrage
oder einem Bürgerforum rauskommt.“
Das nämlich ist die Kernfrage, um die sich viele Köpfe Gedanken machen: Wie kann die Murgschifferschaft ins Boot gelockt werden? Einen Verkauf lehnt die Genossenschaft kategorisch ab. „In Frage kommt also nur ein Flächentausch“, sagt Betriebsleiter Dürr. „Wenn wir tauschen, dann aber komplett unsere Fläche westlich der Murg.“Der erste Schritt sei getan, sagt Dürr: ein Kennenlernen mit Walker im Dezember. „Der zweite Schritt wäre jetzt, sich über einen Tauschfaktor zu unterhalten.“Hier sei das Land am Zug, sich mit einem ersten Angebot zu melden. Dann müssten auch die Genossenschafter zustimmen, so Dürr.
„Wir bewirtschaften diese Wälder seit 534 Jahren. Für so einen großen Schritt bräuchten wir einen mehrheitlichen Beschluss der Generalversammlung. Schließlich würden wir mehr als die Hälfte unserer Fläche abgeben.“Dabei müssten alle mitgenommen werden. „Je besser das Angebot des Landes, desto einfacher würde den Genossenschaftern wohl die Zustimmung fallen.“
Möglich wäre auch, die beiden Nationalparkteile über den sogenannten Badischen Bogen miteinander zu verbinden – ein recht dünner Streifen Wald entlang der Schwarzwaldhochstraße, der unterschiedlichen Kommunen gehört. Hierbei müsste sich das Land aber mit den einzelnen Gemeinden einigen, die dem Vernehmen nach wenig Interesse daran haben. Zudem bringt ein solcher Streifen aus ökologischer Sicht nicht allzu viel, wie auch Ranger Reif erklärt. Er verweist auf die 500 Meter breite Pufferzone rund um das Kerngebiet des Nationalparks, die vor allem dazu dient, den Borkenkäfer in Schach zu halten. Von einem schmalen Verbindungsstück bliebe wenig Unberührtheit übrig, wenn an den Rändern noch 500 Meter als Puffer dienten.
In den Kerngebieten des Parks, die nach 30 Jahren 75 Prozent der Fläche einnehmen müssen, darf sich der Borkenkäfer ungehindert austoben. In der Managementzone drumherum werden befallene Bäume indes sofort identifiziert, vom Nationalparkteam gefällt und von Käufern möglichst schnell abtransportiert. „Wir erkennen an, dass im Nationalpark ein massiver Aufwand beim Borkenkäfermonitoring betrieben wird“, betont Murgschiffer Dürr. „Stand 2022 kann man sagen, das läuft okay.“
Der Blick auf die Baumwipfel in der Kernzone ist für ungeübte Augen indes beunruhigend. Urs Reif steht auf einer Anhöhe, hangabwärts liegt der Wildsee. Sein dunkles Wasser scheint den strahlenden Sonnenschein zu verschlucken. Der Ranger zeigt auf kahle Flecken im sonst grünen Wipfelmeer. Hier hat der Borkenkäfer gewütet, die Bäume sind abgestorben. Was für Waldbesitzer, die mit ihrem Holz Geld verdienen wollen, der blanke Horror ist, scheint
Reif zu freuen. Er sieht keine toten Bäume, sondern den Beginn neuer Lebenszyklen, sobald die Bäume umgefallen sind und zu sogenanntem Totholz werden. „Das ist ein Eldorado für Pilze und Insekten“, sagt Reif – und auch für Wissenschaftler, die Borkenkäfer erforschen. Neue Bäume und andere Pflanzen werden dort wachsen. Die Natur verjüngt sich selbst, genau das ist das Ziel eines Nationalparks.
Und der lockt immer mehr Touristen an, erklärt Dominik Rüede vom Besuchermonitoring. Der Nationalpark verzeichnete von Juli 2018 bis Juni 2019 noch rund 778 000, im selben Zeitraum ein Jahr später waren es 834 000, zwischen Sommer 2020 und Sommer 2021 schließlich mehr als eine Million. „Auf den Anstieg hatte wahrscheinlich auch die Corona-Pandemie und die damit verbundene, deutschlandweit registrierte Zunahme des Tagestourismus in Naherholungsgebieten einen Einfluss“, sagt er. Wie sich die Besucherzahlen weiterentwickelten, bleibe also abzuwarten.
Ein zusammenhängendes Gelände könnte die Attraktivität des Nationalparks zusätzlich steigern. So schnell wie sich das manche erhoffen mögen, wird es laut Walter Dürr von der Murgschifferschaft aber sicher nicht gehen. Selbst wenn sich seine Genossenschaft und das Land einig würden, dauere es Jahre, bis die Tauschflächen definiert, bewertet und übergeben wären. „Ein Hektar ist nicht gleich ein Hektar“, sagt er. Bei der Bewertung von Waldfläche spiele etwa eine Rolle, welche Bäume mit welchem Alter darin stünden, ob es Immobilien im Wald gebe, wie der Forst mit Wegen erschlossen sei. „Das ist ein Prozess, der sich über mehrere Jahre ziehen würde. Das ist vielen noch nicht so bewusst“, sagt er. An der Verfügbarkeit von staatlichen Waldflächen zum Tausch würde es allerdings nicht scheitern. „Wir sind dabei aber vorrangig an Flächen interessiert, die an unsere Waldungen östlich der Murg angrenzen. Es bringt uns wenig, wenn das Land sagt, wir hätten da noch eine Fläche bei Ravensburg“, so Dürr.
Zunächst werde Umweltministerin Walker noch viele, vertiefte Gespräche zur Weiterentwicklung des Nationalparks führen, sagt ihre Sprecherin. Ein besonders wichtiger Gesprächspartner arbeitet in Rufweite von Walker: das Umweltministerium liegt direkt neben dem Agrarministerium. Hinter vorgehaltener Hand berichten Mitglieder von Grünen und CDU, dass Hauk wenig Interesse an einer großen Nationalparklösung habe. Manche wünschen sich schon ein Basta von Ministerpräsident Kretschmann – dafür scheint es aber noch zu früh. Walter Dürr von den Murgschiffern scheint das politische Treiben mit großer Ruhe zu beobachten. „Die Lösung muss mit uns gefunden werden“, sagt er. „Entweder es wird gut, oder es wird nichts, und wenn es nichts wird, ist es auch gut. Dann machen wir weiter wie bisher. Wir haben keinen Druck.“
Walter Dürr, Betriebsleiter
Murgschifferschaft