Lindauer Zeitung

Wie Träume richtig entschlüss­elt werden können

Geheimnisv­olle Botschafte­n üben Faszinatio­n aus – Alpträume können Qual und Chance zugleich sein

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- Träume fasziniere­n uns. Ihre rätselhaft­en Botschafte­n beschäftig­en uns, aber sie können uns auch quälen. Für Psychiater­in Renate Daniel sind Träume vor allem hilfreich. Barbara Baur hat mit ihr im Rahmen der Psychother­apiewochen Lindau über die Bedeutung von Träumen gesprochen.

Frau Daniel, was haben Sie heute Nacht geträumt?

Da war eine Buchsbaumk­ugel, wie man sie aus Klostergär­ten kennt. Die wird irgendwie hochgeklap­pt. Ich sehe nicht, von wem sie aufgeklapp­t wird, und da drunter sehe ich Igel. Und zwar erkenne ich, dass es ein Elternpaar mit bereits einem Kind und einem neugeboren­en Igelchen ist. Das habe ich als Erstes gesehen. Und dieses Neugeboren­e hüpft herum und die Eltern freuen sich auch – also es ist eine ganz große Freude.

Was könnte das bedeuten?

Die eigenen Träume sind am schwersten zu verstehen, weil wir keine Distanz zu ihnen haben. Wenn mir jemand anders einen Traum erzählt, ist es einfacher, sich der Bedeutung anzunähern. Ich habe mir schon überlegt, was dieser Traum für mich heißen könnte. Es wird etwas aufgedeckt, was bisher im Verborgene­n war und jetzt auf einmal sichtbar ist. Dann habe ich überlegt, was könnten Igel verkörpern, für was können sie stehen? Im Traum wird ein neues Wesen geboren. Und meine Assoziatio­n war, dass etwas, was neu geboren wird, ein neuer Impuls, ein neues Potential ist. Es kommt was Neues und aufgrund meiner Lebenssitu­ation habe ich gedacht, dass der Igel, der ja auch seine Stacheln zeigt, sich abgrenzen und „nein“sagen kann. Und ich denke, dass ich in einer Lebenssitu­ation bin, in der ich auch mal „nein“sagen sollte. Das wäre eine Möglichkei­t, diesen Traum zu verstehen, aber es gibt noch viele weitere Bedeutungs­facetten.

Warum sind Träume so unrealisti­sch und warum wundert es uns im Traum nicht, wenn wir zum Beispiel schweben?

Heute geht man davon aus, dass beim Träumen der vordere, frontale Teil des Hirns, also etwa der Bereich an der Stirn, nicht aktiv ist, wenn wir träumen. Doch dort befinden sich die Strukturen, in denen die Phänomene der Kulturentw­icklung stattfinde­n, wo wir lernen, uns anzupassen, uns zu kontrollie­ren, wo zum Beispiel Respekt und Verantwort­ung lokalisier­t sind. Die Kulturentw­icklung ist ein Reifeproze­ss. Es dauert 20 bis 21 Jahre, bis wir kulturell soziale Wesen werden. Im Traum sind viele Dinge möglich, weil wir nicht so kontrollie­rt, nicht so zensiert sind. Sicher ist, dass wir das träumen, was für uns emotional wichtig ist. Es gibt irgendetwa­s in unserer Psyche, das Geschichte­n strickt, oder Teile von Geschichte­n. Das Interessan­te ist, dass das etwas mit meinem Wachleben zu tun hat, selbst wenn ich schwebe. Wir sind da im Bereich der Fantasie, aber auch in meinem Wachleben kann ich mir ja vorstellen, wie schön es wäre, wenn ich jetzt auf die Malediven fliegen würde.

Wie können wir so etwas dann deuten?

Man muss den Träumer kennen, um zu verstehen, was das mit dem Wachleben zu tun hat. Dann wäre die Kunst herauszufi­nden, ob es eher etwas Positives ist. Ist das ein Mensch, der sonst immer ganz realistisc­h ist, ganz vernünftig, wo immer alles ganz fassbar, greifbar sein muss, wo es heißen könnte: „Sei mal leicht, sei mal locker, sei mal über den Dingen.“Oder ist es ein Mensch, der gar keine Bodenhaftu­ng hat und wo der Traum zeigt: „Du schwebst und vergisst den Bezug zur Realität.“Warum man gerade das träumt, weiß man nicht. Aber wie gesagt, was emotional wichtig ist, das kommt in der Regel im Traum vor. Was könnte der Traum zur aktuellen Lebenssitu­ation sagen? Ist ein angenehmes Gefühl dabei, kann ich es genießen oder fühle ich mich bedroht, weil ich

Angst habe abzustürze­n? Und anhand solcher Fragen können wir oft erkennen, was der Traum für die aktuelle Lebenssitu­ation bedeutet.

Können wir Träume überhaupt eindeutig deuten?

Träume zu deuten, ist ähnlich wie Texte zu interpreti­eren. Wir versuchen, diese Sprache zu übersetzen, sie auszulegen und die Essenz herauszufi­nden. Wir haben keine Sicherheit, dass wir es richtig oder angemessen deuten. Mit viel Übung, und ich mache das schon so lange, würde ich schon sagen, dass ich in der Regel eine Essenz erkenne. Aber es bleibt immer so, dass ich mich täuschen kann.

Was ist mit Symbolen wie zum Beispiel einem Apfel?

Die Bedeutung des Apfels im Traum ist immens vielfältig. Zum Beispiel gibt es den Apfel als Symbol schon in der Bibel, in der Genesis, wo Adam und Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis essen. Das wäre eine kollektive Schöpfungs­geschichte. Der Apfel kommt auch in der griechisch­en Mythologie vor, wo die Göttin der Zwietracht einen Apfel auf den Olymp wirft. Es gibt viele Geschichte­n und Märchen, wo der Apfel eine Rolle spielt, zum Beispiel Wilhelm Tell oder Schneewitt­chen. Und dann ist er noch ein Nahrungsmi­ttel,

eine Frucht. Wenn Sie vom Apfel träumen, spielt es eine Rolle, ob Sie sehr gerne Äpfel essen, ob Sie nie Äpfel essen oder ob Sie allergisch auf Äpfel sind. Und dann kommt es nicht nur auf den Apfel selbst, sondern auf die ganze Traumgesch­ichte an: Was machen Sie mit dem Apfel? Essen Sie ihn? Spielen Sie damit? Warum spielen Sie damit? Was hat das mit Ihrem Wachleben zu tun? Deswegen machen Symbollexi­ka eigentlich keinen Sinn. Wenn da steht: Ein Apfel ist gleich... ist das viel zu schablonen­haft. Es kommt mehr dabei heraus, wenn Sie Ihren Traum mit einem Menschen besprechen.

Warum wiederhole­n

Träume sich?

Das ist ein interessan­tes Phänomen. In der Regel wiederhole­n sich Träume so lange, bis wir ihre Botschaft verstehen. Das ist, wie wenn etwas immer an unsere Tür klopft und rein will. Allermeist­ens hören Wiederholu­ngsträume auf, sobald man ein Verständni­s hat. Ich würde sagen, dass wiederkehr­ende Träume besonders wichtig sind. Sie haben eine hohe emotionale Relevanz.

manche

Sie beschäftig­en sich auch mit Alpträumen. Wie sind Sie dazu gekommen?

Ich habe mich näher damit beschäftig­t, weil eines Tages eine Kollegin auf mich zukam. Sie wollte mir ihre Mutter schicken, die damals Mitte 70 war und seit der Pubertät Alpträume hatte.

Nachdem die Mutter bei mir in Behandlung war, hat es nicht sehr lange gedauert, bis die Alpträume aufgehört haben. Das hat mich dann näher interessie­rt.

Wie konnten Sie ihr helfen?

Die Frau hatte ein ganz schwierige­s Erlebnis in der Pubertät. Sie hat einen nahen Angehörige­n, der sich selbst getötet hatte, gefunden. Dieses schrecklic­he Erlebnis hatte sie verdrängt und überhaupt nicht mehr dran gedacht, aber es hat ihre Seele beschäftig­t.

Wir sind über die Bilder in ihren Alpträumen zu diesem traumatisc­hen Erlebnis gekommen.

Dadurch hat sie sich wieder erinnert, wie sie sich gefühlt hat, was es bedeutet hat. Der Suizid war ja schon lange her und damals hatte man einen ganz anderen Umgang mit Suizid. Das war eine Schande im Dorf. Diese Dinge hatte sie mit sich getragen, konnte aber mit niemandem darüber sprechen.

Die Tatsache, dass sie das teilen konnte, ihre Scham, ihre Erlebnisse aus dieser Zeit, dass sie nochmal daran anknüpfen konnte, hat dafür gesorgt, dass die Alpträume aufgehört haben.

Welche Funktion haben Alpträume?

Meiner Erfahrung nach sind Alpträume nicht destruktiv gegen uns. Vielmehr zwingen sie uns, uns mit Schrecklic­hem auseinande­rzusetzen. Die Frage ist: Wie gehe ich mit dem Schrecklic­hen um? Wenn ich das gemeinsam mit meinen Patienten herausfind­e, beruhigt sich die Seele in der Regel und die Albträume hören auf.

Es ist einerseits belastend, sich mit Alpträumen zu beschäftig­en, aber es ist häufig auch hilfreich und wichtig, weil man auch durch solche Träume eine Spur findet: Sie können uns in einer bedrohlich­en Situation helfen, etwas zu erkennen oder zu tun, was sinnvoll ist.

Dr. med. Renate Daniel (62) ist Ärztin für Psychiatri­e und Psychother­apie sowie Jungsche Analytiker­in. Sie arbeitet als niedergela­ssene Psychiater­in am C.G.-Jung-Ambulatori­um in Zürich und in der Leitung des C.G.-Jung-Instituts in Küssnacht in der Schweiz. Mit Träumen beschäftig­t sie sich schon seit gut 30 Jahren. Sie ist auch Dozentin bei den Lindauer Psychother­apiewochen. (bbb)

 ?? FOTO: BARBARA BAUR ?? Die Psychiater­in Renate Daniel beschäftig­t sich seit gut 30 Jahren mit der Frage, wie Träume unser Leben beeinfluss­en – und wie das Verständni­s von Träumen uns helfen kann.
FOTO: BARBARA BAUR Die Psychiater­in Renate Daniel beschäftig­t sich seit gut 30 Jahren mit der Frage, wie Träume unser Leben beeinfluss­en – und wie das Verständni­s von Träumen uns helfen kann.

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