Erst einmal die Oma retten
Dramatische Tage für Tischtennisprofi Ovtcharov
(SID/dpa) - Aufschlag, Vorhand-Topspin und UnterschnittAbwehr waren für Dimitrij Ovtcharov plötzlich weit, weit weg. „Wir waren alle extrem geschockt, traurig und die ersten zwei, drei Tage wie gelähmt, als der Krieg begann“, berichtete der 33-Jährige in Interviews mit der „Süddeutschen Zeitung“und der „FAZ“. Für Ovtcharov, in Kiew geboren, wohnhaft in Düsseldorf, Sohn eines sowjetischen Nationalspielers, ging es plötzlich um Leben und Tod.
„Ich habe mich gar nicht mit Tischtennis beschäftigt, sondern nur daran gedacht, wie ich meine Oma aus Kiew bringen kann“, sagte der Olympia-Dritte über die dramatischen ersten Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Die Großmutter, 85 Jahre alt und nicht fähig, Auto zu fahren, schaffte es tagelang nicht in die Evakuierungszüge. „Da waren Tausende von Menschen, das Gedränge war riesengroß. Sie schaffte es einfach nicht hinein, zumal sie auch noch die ganze Reise über mehrere Stunden hätte stehen müssen“, sagte Ovtcharov. „Es war dann purer Zufall und Glück.“
Ein alter Tischtennisfreund seines Vaters Michail half aus und nahm die Oma mit, die schon die Schrecken des Zweiten Weltkriegs überlebt hatte. „Er selbst musste in der Ukraine bleiben und das Land verteidigen. Er bat meinen Papa, ihm bei der Wohnungssuche und den Behördengängen zu helfen, weil niemand in der Familie Deutsch spricht. Im Gegenzug nahm der Freund meine Oma mit.“
Die lebt inzwischen seit einigen Wochen in der Nähe von Hannover, doch sie ist „übel krank geworden“und liegt im Krankenhaus. Während Rufe laut wurden, er müsse den russischen Club Fakel Orenburg verlassen, organisierte Ovtcharov neben seiner Sorge die Flucht von Freunden,
Bekannten und deren Kindern. „Das ist für mich selbstverständlich“, sagte er und bedankte sich für die Hilfsbereitschaft der vielen anderen Deutschen.
Dann, endlich, fand Ovtcharov ein wenig Zeit, seinen eigentlichen Lebensinhalt zu ordnen: Tischtennis. Die ehemalige Nummer 1 der Welt kündigte seinen Vertrag mit dem russischen Spitzenclub Fakel Orenburg, mit dem er seit 2010 viermal die Champions League gewann und der von dem russischen EnergieUnternehmen Gazprom gesponsort wird. „Am ersten Tag des Krieges war uns klar: Jetzt geht es nicht mehr. Obwohl die Menschen im Verein nichts mit dem Krieg zu tun haben, mussten wir klar Stellung beziehen.“
Ovtcharov wird in der kommenden Saison vornehmlich in der Champions League und im DTTBPokal für den TTC Neu-Ulm spielen, der ein spektakuläres Projekt an den Start bringt. Angesichts langwieriger Knöchelprobleme ist er allerdings noch nicht richtig fit.
Sein Comeback plant Ovtcharov für Anfang Juli. Was bis dahin mit der Ukraine geschieht? Er weiß es nicht.