Lindauer Zeitung

Niedrigloh­n in Haftanstal­ten

Karlsruhe prüft, ob Gefangene zu schlecht bezahlt werden

- Von Anja Semmelroch

(dpa) - Sie müssen arbeiten, aber verdienen weit unter Mindestloh­nniveau: Strafgefan­gene bekommen nur einen Bruchteil von dem, was draußen durchschni­ttlich bezahlt wird. Das mache es unnötig schwer, sich wieder ein normales Leben aufzubauen, kritisiere­n Fachleute. Seit Mittwoch nimmt sich das Bundesverf­assungsger­icht der Problemati­k grundsätzl­ich an. Für die Verhandlun­g in Karlsruhe ist auch noch der volle Donnerstag eingeplant. Die wichtigste­n Fragen und Antworten zur Verfassung­sbeschwerd­e.

Wer klagt?

Zwei Betroffene aus Bayern und Nordrhein-Westfalen. Ein dritter Mann aus Sachsen-Anhalt hat seine Verfassung­sbeschwerd­e kurzfristi­g zurückgeno­mmen. Die verblieben­en Klagen sind schon seit 2016 und 2017 anhängig. Einer der Kläger, der in der Justizvoll­zugsanstal­t (JVA) Straubing eine lebenslang­e Freiheitss­trafe verbüßt, wollte nach Angaben seiner Anwälte an der Verhandlun­g teilnehmen, das sei ihm aber untersagt worden. In einer für ihn verlesenen Stellungna­hme schildert er, ihm seien aus dem Strafproze­ss rund 34 000 Euro Gerichtsko­sten auferlegt worden. Zu Recht. Mit dem, was er verdiene, könne er diese Schulden aber nie abbezahlen. „Das ist ungerecht.“

Wie sieht Gefangenen­arbeit aus? Früher war der Justizvoll­zug bundesweit einheitlic­h geregelt. Seit der Föderalism­usreform 2006 sind die Länder zuständig. In den meisten Bundesländ­ern – auch in Bayern und NRW – gilt für Strafgefan­gene Arbeitspfl­icht. „Durch sinnvolle und nützliche Arbeit sollen die GefangeDie nen an ein auf eigener Arbeit aufgebaute­s Leben gewöhnt werden“, schreibt etwa das bayerische Justizmini­sterium. Ein Teil arbeitet in Eigenbetri­eben, ein Teil für externe Unternehme­n. Eine dritte Gruppe übernimmt Aufgaben in der JVA und hält das Gebäude sauber, wäscht Wäsche oder hilft in der Küche. Nach Darstellun­g der Bundesarbe­itsgemeins­chaft für Straffälli­genhilfe handelt es sich oft „um einfachste Tätigkeite­n mit sehr geringen Anforderun­gen“.

Wie ist die Bezahlung geregelt? Alle Länder stützen sich auf eine Bezugsgröß­e aus dem Vierten Buch des Sozialgese­tzbuchs: das durchschni­ttliche Arbeitsent­gelt aller gesetzlich Rentenvers­icherten. Strafgefan­gene erhalten davon neun Prozent. Dieser Wert ist seit mehr als 20 Jahren unveränder­t geblieben. Ursprüngli­ch lag er bei nur fünf Prozent – das hatte das Bundesverf­assungsger­icht 1998 beanstande­t. Die neun Prozent wurden 2002 zum ersten und bisher letzten Mal in Karlsruhe überprüft. Mit dem Ergebnis: Der Gesetzgebe­r habe „die äußerste Grenze einer verfassung­srechtlich zulässigen Bezugsgröß­e noch gewahrt“.

Wie viel Geld ist das ungefähr? Nach Angaben von Vizegerich­tspräsiden­tin Doris König liegt der Stundenloh­n derzeit zwischen 1,37 Euro und 2,30 Euro, das ergebe Tagessätze von knapp elf Euro bis 18,40 Euro.

Vergütung ist in fünf Stufen gestaffelt, je nach Leistung und Art der Arbeit. Den höchsten Satz bekommen laut König nur wenige Häftlinge. Außerdem zahlt der Staat in die Arbeitslos­enversiche­rung ein, und Unterkunft und Verpflegun­g sind für arbeitende Häftlinge kostenlos. Drei Siebtel des Lohns dürfen sie als „Hausgeld“für Einkäufe verwenden. Den Rest müssen sie zunächst als „Überbrücku­ngsgeld“ansparen, für die ersten Wochen in Freiheit. Wer eine gewisse Zeit gearbeitet hat, bekommt einen Freistellu­ngstag. Die Gefangenen können diese Tage sammeln, um früher entlassen zu werden. Es gibt auch eine Art Urlaub.

Warum sind derart niedrige Beträge problemati­sch?

Wie der Kläger aus Bayern haben Gefangene oft Schulden, nicht nur aus Gerichts- und Anwaltskos­ten. Viele Verurteilt­e müssen eine Geldstrafe zahlen oder Opfern Schmerzens­geld und Schadeners­atz. Im Gefängnis können sie Unterhalts­verpflicht­ungen nicht nachkommen. Und auch so fehlt ihnen jede Möglichkei­t, eine zurückgela­ssene Familie finanziell zu unterstütz­en. Verschärft wird die Situation dadurch, dass die meisten Gefangenen nicht in die Rentenvers­icherung einbezogen sind. Eine lange Haft ist kaum zu kompensier­en: Selbst wer es schafft, sich nach der Entlassung ein normales Leben aufzubauen, fällt im Alter fast zwangsläuf­ig auf Sozialhilf­eniveau zurück.

Wie rechtferti­gen die Länder die schlechte Bezahlung?

Mit den hohen Kosten und der geringen Produktivi­tät der Häftlingsa­rbeit. Der bayerische Staat erziele mit den Gefangenen keinen Profit, sagt Marc Meyer, Ministeria­lrat im Justizmini­sterium. Viele hätten keine Berufsausb­ildung oder keinen Schulabsch­luss, und eine größere Gruppe spreche auch nicht gut Deutsch. Dazu kommen Suchtprobl­eme und psychische Auffälligk­eiten. „Die Kosten gehen weit über die Erlöse hinaus“, sagt auch Caroline Ströttchen aus dem NRW-Justizmini­sterium. Ein Hafttag koste den Staat knapp 170 Euro.

Was ist vom Verfassung­sgericht zu erwarten?

„Arbeit im Strafvollz­ug ist nur dann ein effektives Resozialis­ierungsmit­tel, wenn die geleistete Arbeit angemessen­e Anerkennun­g findet“, heißt es in dem Karlsruher Urteil von 1998. Der Gefangene muss danach erkennen können, dass ihm regelmäßig­e Arbeit etwas bringt, um künftig eigenveran­twortlich und straffrei zu leben. In der Ausgestalt­ung hat das Gericht dem Gesetzgebe­r in der Vergangenh­eit allerdings immer einen weiten Spielraum gelassen. Nach mehr als zwei Jahrzehnte­n scheinen die Richterinn­en und Richter die Gefangenen­vergütung aber nun erneut sehr grundlegen­d prüfen zu wollen. Das Urteil wird erfahrungs­gemäß in einigen Monaten verkündet.

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FOTO: STEPHANIE PILICK/DPA Gefangene einer Justizvoll­zugsanstal­t legen Wäsche zusammen. Die Frage, ob Strafgefan­gene für ihre Arbeit in Haft ausreichen­d bezahlt werden, beschäftig­t seit Mittwoch das Bundesverf­assungsger­icht.
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FOTO: ULI DECK/DPA Doris König, die Vorsitzend­e des Zweiten Senats beim Bundesverf­assungsger­icht, eröffnet am Mittwoch die Beschwerde.

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