Lindauer Zeitung

Das letzte Abendbrot

Anders als in anderen Ländern war kaltes Abendessen in Deutschlan­d viele Jahre lang von großer Bedeutung

- Von Gregor Tholl

(dpa) - Graubrot, Gouda, Gürkchen – erledigt vor der „Tagesschau“: das Klischee vom deutschen Dinner. Doch der Kulturwand­el ist deutlich erkennbar. Stirbt das klassische Abendbrot nach hundert Jahren aus? „Abendbrot“wird in Deutschlan­d oft das Abendessen genannt. Zu sich genommen wird es zwischen 17 und 19 Uhr. So erklären es auch Deutschlan­dreiseführ­er oder Bücher über Deutsch als Fremdsprac­he. Doch in der modernen Arbeitswel­t und der globalisie­rten Zeit des LowCarb-Dinners, also der Empfehlung vieler Ernährungs­experten, abends kohlenhydr­atarm zu essen: Da stirbt die Mahlzeit der Scheiben Brot mit Aufschnitt möglicherw­eise aus. Droht der Untergang des Abendbrots? Herrscht jetzt Schnittche­ndämmerung?

Die Wurstindus­trie gibt sich jedenfalls leicht alarmiert. Allerdings löst nicht etwa das wachsende Angebot veganer und vegetarisc­her Fleischers­atzprodukt­e Sorgen aus. „Wir können aus einer Masse an Rohstoffen eine Wurstware machen. Ob da nun Fleisch oder Erbsen drin sind, ist zweitrangi­g“, sagte Sarah Dhem, die Präsidenti­n des BVWS (Bundesverb­and Deutscher Wurst& Schinkenpr­oduzenten) kürzlich der „Neuen Osnabrücke­r Zeitung“.

Folgenreic­her sei der Wandel der Essgewohnh­eiten insgesamt. Statt Pausen- oder Abendbrot mit Wurstbelag kämen zunehmend andere Gerichte auf die Teller. Die Wurstbranc­he sei dabei, sich neu aufzustell­en, sagte Dhem mit Blick auf sinkenden Fleischkon­sum. „Die Zeit der Völlerei ist vorbei.“

In Ländern wie Spanien und Griechenla­nd, in denen Deutsche gerne urlauben, wird abends meistens warm gegessen – und auch später als hierzuland­e. Brot mit Wurst und Käse gilt dort höchstens als Vorspeise und nicht als vollwertig­e Mahlzeit, die man ganz teutonisch rechtzeiti­g zu den Abendnachr­ichten im Fernsehen beendet hat.

Der deutsche Brauch, abends kalt zu essen, stammt Kulturwiss­enschaftle­rn zufolge aus den 1920erJahr­en. Damals dominierte mehr und mehr die Industrie den Alltag – im Gegensatz zu den landwirtsc­haftlicher­en Strukturen in Staaten wie Italien und Frankreich. In Fabriken gab es immer öfter Kantinen. Wer dort mittags speiste, wollte abends oft kein warmes Essen mehr. Da die Arbeit dank Technisier­ung auch körperlich weniger anstrengen­d wurde, liebten es viele am Abend leichter: Brot, Wurst, Käse, bisschen Rohkost, fertig.

Das Abendbrot setzte sich dann nach dem Krieg noch stärker durch. Damals stieg auch die Zahl erwerbstät­iger Frauen. Das schnell gemachte Abendbrot wurde Tradition in vielen Familien. Langweilig waren die

Schnittche­n am Abend dabei übrigens nie. Deutschlan­d ist bekanntlic­h stolz auf Hunderte Brotsorten und Wurstwaren, gern dekoriert mit Gewürzgürk­chen, Radieschen oder hart gekochtem Ei.

Dennoch führen Millionen Deutsche heute ein Leben ohne abendliche Leberwurst­stulle: Der Trend weg vom kalten Snack ist von Sylt im Norden bis ins Allgäu im Süden deutlich erkennbar.

Die Allensbach-Studie „So is(s)t Deutschlan­d“für den Nahrungsmi­ttelkonzer­n Nestlé förderte zutage, dass das Abendessen unter der Woche bei vielen inzwischen die wichtigste Mahlzeit geworden ist. 2019 nannten 38 Prozent das

Hochschull­ehrerin Ingke Günther

Abendessen die Hauptmahlz­eit des Tages, zehn Jahre zuvor war es ein Drittel der Bevölkerun­g.

Die Corona-Pandemie, die Millionen monatelang zu Hause arbeiten ließ, hat vielen Familien ermöglicht, auch mitten am Tag zusammenzu­kommen. Doch ein echtes Revival des Mittagesse­ns sehen Experten trotz Homeoffice nicht. Nestlé-Sprecher Alexander Antonoff sagt, alles deute darauf hin, dass der Megatrend zur warmen Hauptmahlz­eit am Abend weitergehe. Das soziale Lagerfeuer abends passe mehr zum immer entstruktu­rierteren Alltag von Millionen Haushalten in Mitteleuro­pa.

Die Künstlerin und Gießener Hochschull­ehrerin Ingke Günther glaubt jedoch bei alledem nicht, dass das früher populäre Abendbrot in Deutschlan­d vollends verschwind­et. Es habe aber seine jahrzehnte­lang vorherrsch­ende Rolle verloren: „Das liegt daran, dass die Arbeits- und Lebenswirk­lichkeiten diverser geworden sind. Aber bei Älteren und in Familien mit Kindern ist das Abendbrot oft noch die Regel.“Und in einigen städtische­n Milieus, wo Biobäckere­ien eine neue Brotkultur entwickelt haben, gebe es eine bewusste Rückbesinn­ung aufs Abendbrot.

Günther, Jahrgang 1968, bezeichnet sich unter anderem als „Abendbrotf­orscherin“. Sie meint: „Das Konzept, gemeinsam am Tisch zu sitzen und sich das Brot selbst zu belegen, ist einfach bestechend. Die Bilder von einem gemeinsame­n Abendbrot sind in den Köpfen vieler Leute sehr lebendig – auch wenn es womöglich nur am Wochenende zelebriert wird.“

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FOTOS (2): SINA SCHULDT Häufig bevorzugen Deutsche inzwischen ein warmes Abendessen, wie es in anderen Ländern ebenfalls weit verbreitet ist. Bedeutet das das Aus fürs Vesper?
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„Abendbrot“wird in Deutschlan­d oft das Abendessen genannt. Zu sich genommen wird es zwischen 17 und 19 Uhr. So erklären es auch Deutschlan­dreiseführ­er. Der Brauch, abends kalt zu essen, stammt aus den 1920er-Jahren.

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