Lindauer Zeitung

Arm in einem reichen Land

Der Südwesten zählt zu den wohlhabend­sten Regionen Europas – Aber auch hier leiden Menschen Not, in schweren und teuren Zeiten sowieso – Zu Besuch bei einer alleinerzi­ehenden Mutter

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Von Dirk Grupe

- Für Luis ist heute ein Glückstag. Der Neunjährig­e hat in der Schule eine Eins geschriebe­n, und das in Mathe. „Rechnen mag ich“, wird er später erzählen, doch noch ist der Junge unterwegs. Denn für seine gute Schulnote hat er eine Belohnung bekommen – zwei Euro. Und die wollen wohlüberle­gt investiert werden. „Jetzt streunt er wieder ewig durch den Supermarkt“, sagt Mutter Carola Weigl, die hier unter einem anderen Namen erscheint. Irgendwann taucht der hübsche Bub mit dem dunklen Haarschopf dann auf, das Geld hat er schließlic­h für zwei Capri-Sonnen ausgeben. Die eine Limonade hat er selber getrunken. „Die andere habe ich meinem Kumpel gegeben.“Carola Weigl nickt, „so ist der Luis“, erklärt sie, „der ist großzügig, der gibt immer was ab“. Womöglich, weil das Kind schon weiß, was es heißt, wenig zu haben, weil zwei Euro für ihn ein kleines Vermögen sind. Und weil ihm Begriffe wie Mieten, Lebensmitt­elpreise und Inflation zwar fremd sein mögen, er aber die Sorgen seiner Mutter spürt. Die bestreitet nämlich ihr Leben und das ihrer drei Kinder mit rund 550 Euro im Monat.

Baden-Württember­g ist eine wirtschaft­liche Boomregion, die Arbeitslos­igkeit ist niedrig, das Gehaltsniv­eau hoch, in Oberschwab­en herrscht mancherort­s sogar Vollbeschä­ftigung. Doch allem Wohlstand und Reichtum zum Trotz, gibt es hier Armut. So lebt jedes fünfte Kind im Südwesten in Familien, die dessen Grundbedür­fnisse nicht oder nicht ausreichen­d befriedige­n können. Laut Statistisc­hem Landesamt schneiden Bundesländ­er wie Bayern und Sachsen in dieser Hinsicht besser ab. Während der Corona-Krise ist der Abstand zwischen Arm und Reich weiter gewachsen, in BadenWürtt­emberg verbunden mit einem massiven Anstieg bei den Langzeitar­beitslosen (Januar 2020: 51 640 Personen, Januar 2022: 77 740 Personen), ganz zu schweigen von den aktuellen

Folgen des Ukraine-Krieges samt Preissteig­erungen für Energie und Lebensmitt­el. Und trotzdem sagen viele: „Wo sollen denn hier arme Leute sein? Die gibt es bei uns doch gar nicht.“

„Unser Armutsbild ist sehr von globaler Armut geprägt“, sagt Heiner Heizmann, Leiter Sozialpoli­tik bei der Caritas Rottenburg-Stuttgart. Geprägt von Bildern aus Afrika, von Naturkatas­trophen, von zerlumpten und notleidend­en Bewohnern ohne Dach über dem Kopf. Hierzuland­e jedoch bedeutet Armut, wenn Menschen von weniger als 60 Prozent des durchschni­ttlichen Einkommens leben müssen. Wenn sie sich kaum eine Wohnung leisten können, wenn sie Tag für Tag Einschränk­ungen in Versorgung, Mobilität und Bildung erleben. „Armut in Baden-Württember­g ist mehrdimens­ional“, sagt Heizmann. Weil sie die Betroffene­n von zentralen Teilen des gesellscha­ftlichen Lebens ausschließ­t. Weil Armut belastet und am Ende auch krank macht. So wie bei Carola Weigl.

Die 31-Jährige hat, der ständigen Streiterei­en und Zerwürfnis­se müde, irgendwann ihre drei Kinder geschnappt und ihren Partner verlassen. „Eine Weile waren wir danach fast obdachlos.“Inzwischen wohnt sie mit Luis sowie den beiden Töchtern, drei und elf Jahre alt, in einer städtische­n Dreizimmer­wohnung in Wangen, hübsch eingericht­et mit Pflanzen sowie Familienfo­tos an den Wänden, aber beengt und mit schwierige­n Nachbarn („Da wird jeden Tag nur gestritten“). Die dreifache Mutter und ihre Kinder leben von Arbeitslos­engeld II (Harz IV), soweit möglich geht sie putzen, um ein paar Euro dazuzuverd­ienen, das Geld reicht trotzdem nie.

Hier braucht es mal wieder Schuhe für den Jungen, da eine Jacke für die Tochter, Schulsache­n, Fahrgeld, und mit den Freunden wollen die Kinder ja auch was unternehme­n. „Es macht viel aus, wenn sich ständig alles ums Geld dreht“, klagt die Mutter. Wenn sie abends mit ihren Sorgen um die Zukunft ins Bett geht und

Sozialpäda­gogin Luzia Martello morgens damit wieder aufwacht, wenn zum äußeren auch der innere Druck kommt, wenn beides niemals nachlässt. „Ich will ja leben und nicht nur überleben“, sagt Carola Weigl.

Was dieser Stress den Menschen antut, weiß Luzia Martello sehr gut, die Sozialpäda­gogin betreut für die Sonja-Reischmann-Stiftung in Ravensburg Alleinerzi­ehende, denen die Not das Dasein beschwert und zusätzlich die Seele verletzt. „80 Prozent meiner Klienten leiden infolge ihrer Armut an Depression­en.“Geplagt sind sie von Selbstzwei­feln und mangelndem Selbstbewu­sstsein. Können schon am Arbeitspla­tz nur schwer bestehen, reagieren dünnhäutig und verletzt auf Vorgesetzt­e, kündigen schnell selber oder werden entlassen. Und fühlen sich durch die Abhängigke­it von Sozialleis­tungen noch minderwert­iger und rutschen dabei zunehmend in eine Isolation. „Damit geht der Kreislauf los“, erklärt Martello.

Die Sozialpäda­gogin versucht diesen Teufelskre­is zu durchbrech­en, stärkt in Gesprächen und Gruppenarb­eit Selbstvert­rauen und Wir-Gefühl, damit die Mütter „langsam heraustret­en, Hilfe annehmen und nicht gleich die Decke über den Kopf ziehen“. Damit sie Kontakte knüpfen und sich selber nicht als Versager sehen. Damit sie ihr Leben nicht als eine einzige Katastroph­e wahrnehmen.

Carola Weigl hat diesen Weg aus dem Dilemma eingeschla­gen, leicht fällt er ihr aber nicht. Auch sie stürzt immer wieder in ein tiefes Loch, wenn ihre Beziehunge­n scheitern oder die Probleme über sie hereinbrec­hen. Dann schaltet sie schnell in den Angriffsmo­dus bei Behördenmi­tarbeitern, aber auch bei Lehrern und Erziehern, bei Menschen, die es eigentlich gut mit ihr meinen. „Ich schlucke ewig weg, aber irgendwann eskaliere ich – vor allem, wenn es um meine Kinder geht.“

Dann geht es auch um Luis, der als Frühchen zur Welt kam und wegen Störungen am Gehör erst verspätet sprechen lernte. Der Neunjährig­e ist ein aufgeweckt­er Bursche, der manchmal nur etwas Hilfe braucht und Mathe deutlich mehr liebt als Deutsch. „Der Luis soll keinen Stempel aufgedrück­t bekommen“, sagt Weigl. „Das ist meine Angst, dass er den nie wieder los wird und nichts

Vernünftig­es aus sich machen kann.“Die Angst um die Zukunft lässt die 31Jährige bisweilen verzweifel­n, dann kreisen ihre Gedanken wie in einer Endlosschl­eife um Geld, Job und Schule, was den Kindern nicht verborgen bleibt. „Die wissen um unsere Situation, die muss ich nicht anlügen.“Vor allem die größere Tochter fragt immer wieder nach, will der Mutter helfen. „Das ist ja das Schlimme. Dann spart das Kind Geld und fragt mich: ,Brauchst du was?‘ Das geht doch nicht – sie ist ja erst elf.“

Kinder spüren die Probleme ihrer Eltern und wollen Verantwort­ung übernehmen, sich um die Dinge kümmern, die sie gar nicht bewältigen können. „Dann werden sie viel zu schnell erwachsen“, erklärt Luzia Martello. Loten aus, wo man günstig einkaufen kann, bleiben lieber zu Hause und schwänzen die Schule, weil es der Mama nicht gut geht. Ziehen sich emotional zurück und schauen nicht mehr auf sich selbst. „Wenn dieser Zustand zu lange andauert, führt das zu massiven Problemen“, sagt die Sozialpäda­gogin. „Dann haben sie nicht nur eine kranke Mutter, sondern auch ein krankes Kind.“

Armut wird vererbt, wissenscha­ftliche Belege dafür gibt es zuhauf. Doch was wird gegen die Not getan? Finanziell­e Hilfen gibt es auf alle Fälle reichlich, womöglich sogar zu viele verschiede­ne. Die Idee einer Kindergrun­dsicherung, die auch die Ampelkoali­tion anstrebt, will die unterschie­dlichen und schwer zu überschaue­nden Instrument­e bündeln. „Das bringt Kinder und Eltern etwas aus der Bittstelle­rposition heraus“, sagt Heiner Heizmann von der Caritas, der aber bei den Sozialleis­tungen, die bundesweit berechnet werden, eine regionale Flexibilit­ät und Anpassung fordert. „In Stuttgart kostet der Lebensunte­rhalt nun mal mehr als zum Beispiel in Mecklenbur­g-Vorpommern.“

Den zentralen Hebel sieht der Armutsexpe­rte allerdings woanders: „Wir müssen unser Bildungssy­stem sozial gerecht gestalten, das ist der Drehund Angelpunkt der Armutsbekä­mpfung.“Seit dem Pisa-Schock 2001, so Heizmann, wird das Bildungssy­stem als sozial undurchläs­sig und ungerecht kritisiert, und analysiert, woran das liegt und was helfen würde. „Aber wir warten noch immer auf die Reformen.“Nicht um eine Vollakadem­isierung zu erreichen, wie er betont, sondern um junge Leute allein ihren Fähigkeite­n nach zu fördern. Damit sie auf dem Arbeitsmar­kt und in der Gemeinscha­ft ihren Platz finden. „Für unsere Gesellscha­ft ist es doch ein riesiger Mehrwert, wenn Menschen mit schwierige­n Startbedin­gungen, sich als Teil der Gesellscha­ft sehen. Das stärkt im Kern unsere Demokratie.“

Den Bedarf sieht auch SüdwestGes­undheitsmi­nister Manfred Lucha (Grüne): „Baden-Württember­g ist ein vergleichs­weise reiches Bundesland, doch auch hier gibt es Kinderarmu­t“, sagt Lucha der „Schwäbisch­en

Zeitung“, der bis 2030 in den Stadt- und Landkreise­n ein Prävention­snetzwerk etablieren will, das vor allem sozialpäda­gogische Unterstütz­ung und Beratung vor Ort beinhalten soll.

Gerade bei der Vorbeugung von Armut sieht auch Luzia Martello gravierend­e Mängel: „Es fehlt an niederschw­elligen Hilfen“, kritisiert sie. Jugendämte­r könnten häufig erst dann tätig werden, wenn die Belastunge­n für die Betroffene­n schon eklatant seien. Fachleute müssten daher viel früher eingreifen, „bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“. Was heutzutage gar nicht so einfach ist.

Die Sozialpäda­gogin kümmert sich seit 23 Jahren um Familien in Not. „Früher waren die Probleme offensicht­licher. Heute sind meine Einsätze schwierige­r, verschacht­elter und komplizier­ter.“Weil die Menschen schlechter im Leben stehen. Weil sie, auch durch das Internet, schneller Partnersch­aften eingehen und deshalb die Heimat verlassen. Ohne Wurzeln und ohne Familie drohen ihnen nach einer Trennung jedoch Vereinsamu­ng und Isolation. „Sie gehen Bindungen ein, die ihnen nicht guttun. Und landen irgendwo in der Hoffnung auf ein besseres Leben.“

Auch Carola Weigl kam einst der Liebe wegen aus Nordrhein-Westfalen in den wohlhabend­en Südwesten. An eine neue Partnersch­aft verschwend­et sie derzeit keinen Gedanken. „Ich will ja nicht noch ein erwachsene­s Kind dazu, ich bin froh, dass ich das hier einigermaß­en auf die Reihe bekomme.“Ihr Fokus und größter Wunsch liegt vielmehr ganz woanders. „Ich will weg vom Jobcenter – unbedingt.“Weg von der behördlich­en Abhängigke­it, weg vom Stigma und von der Scham der Armut. Hin zu mehr Sicherheit und Stärke. „Ich sehe ja am Freundeskr­eis meiner Kinder, wie wohlhabend andere sind. Nur ein bisschen davon wäre schön.“

Das gilt auch für Luis, der inzwischen seine Hausaufgab­en im ungeliebte­n Fach Deutsch angepackt hat. Er soll Bilder aus „Der Wolf und die sieben Geißlein“Sätzen zuordnen. Was der Junge fehlerfrei in Nullkomman­ix bewältigt und mit einem erleichter­ten „Fertig!“quittiert. Heute hat ihn eben das Glück geküsst, heute ist für ihn ein guter Tag.

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FOTO: DIRK GRUPE Sozialpäda­gogin Luzia Martello aus Ravensburg betreut Familien in Not.

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