Die Ukraine klingt vielstimmig
Viele Komponisten wurden in Russland ausgebildet, sagen sich nun aber los
Wie klingt ukrainische Klaviermusik? Gibt es da überhaupt ein spezifisch ukrainisches Idiom? Neu erschienene Aufnahmen mit Werken von Viktor Kossenko und Nikolaj Kapustin zeigen, dass diese Komponisten stilistisch ganz unterschiedliche Wege beschritten haben. Eine uniforme landestypische Artikulation findet sich hier ebenso wenig wie bei zeitgenössischen Klavierstücken russischer Kollegen. Auch der im Ausland bekannte Walentin Sylvestrow lässt sich musikalisch nicht auf eine nationale Linie festlegen. Er wurde 1937 in Kiew geboren, hat die letzten sechs Jahrzehnte dort gewohnt und musste nun im hohen Alter mit Angehörigen vor dem Krieg nach Berlin fliehen.
Ukrainische Komponisten wurden noch lange nach dem Zerfall der Sowjetunion im Westen oft pauschal der russischen Musikkultur zugerechnet. Das hat historische Ursachen, die bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreichen, als die begabtesten Musiker des Zarenreichs traditionell an den Konservatorien in Petersburg oder Moskau studierten. Auch nach der Oktoberrevolution behielten diese Lehranstalten ihre zentrale Bedeutung für den kompositorischen Nachwuchs aus allen Sowjetrepubliken. Seit dem Ausbruch des UkraineKriegs werden derlei geschichtlich plausible Zuordnungen allerdings aus politischen Gründen gemieden.
Während Viktor Kossenko sein pianistisches und tonsetzerisches Handwerk noch in Petersburg lernte und Nikolaj Kapustin in Moskau ein Klavierstudium bei dem berühmten Liszt-Enkelschüler Alexander Goldenweiser absolvierte, wandte sich Kapustins Altersgenosse Walentin
Sylvestrow erst spät und weitgehend autodidaktisch der Komposition zu. Neben einer Ausbildung zum Bergbauingenieur besuchte er zunächst eine Abendschule für Musik, wechselte dann aber an das Konservatorium in Kiew und nahm dort Unterricht bei Boris Lyatoshinsky (18951968).
Diesem bedeutenden ukrainischen Komponisten, der selbst noch bei seinem Kiewer Kollegen Reinhold Glière in die Lehre gegangen war, hat Sylvestrow mit seiner dritten Sinfonie ein klingendes Denkmal gesetzt. Seine erste Sinfonie stieß in den 1960er-Jahren noch auf Ablehnung, da ihre zwölftönige Konzeption nicht den staatlich verordneten Richtlinien eines „Sozialistischen Realismus“entsprach. 1970 wurde Sylvestrow gar aus dem Komponistenverband ausgeschlossen. In der Sowjetunion wurden seine avantgardistisch geprägten Werke zunächst nicht gespielt. Im westlichen Ausland konnte er hingegen erste Erfolge verzeichnen.
In den 70er-Jahren schlug Sylvestrow neoromantische Töne an, ohne damit jedoch ästhetischen Vorgaben der Kulturbürokratie nachzukommen. Gleichwohl wurde seine Musik nun zunehmend auch im eigenen Land aufgeführt. Nach dem Ende des Sowjetreichs erhielt Sylvestrow im unabhängigen Nachfolgestaat Ukraine hohe Auszeichnungen. Mittlerweile wird ihm weltweit Anerkennung zuteil. Nach dem Überfall russischer Streitkräfte floh der 84Jährige im März mit seiner Tochter und seiner Enkelin nach Berlin. Angesichts des schrecklichen Kummers und Unglücks in der Heimat möchte er derzeit seinem Mitleiden in „kleiner Form“musikalisch Ausdruck geben. Sylvestrow arbeitet seine täglichen Improvisationen am Klavier schon seit einigen Jahren als Miniaturen aus. Hunderte solcher „Bagatellen“hat er mittlerweile gesammelt. Auch nach seiner lebensgefährlichen viertägigen Flucht aus Kiew sind nun in Berlin wieder einige dieser kurzen Stücke entstanden. Der befreundeten russischen Pianistin Tatjana Frumkis sagte Sylvestrow, er verstehe sie als stillen Protest gegen aggressive Gewalt. Auf ihre Ersteinspielung darf man gespannt sein.
Der 1896 in Petersburg geborene Komponist Viktor Kossenko starb bereits 1938 in Kiew, ein Jahr nach Sylvestrows und Kapustins Geburt. Der bei einem Schüler von Nikolaj Rimsky-Korsakow ausgebildete Ukrainer hat die Musiksprache seines Vorbilds Alexander Skrjabin so kreativ weiterverwendet, dass von Epigonentum keine Rede sein kann. Das zeigen etwa seine selten zu hörenden Etüden op. 8, die der deutsch-ukrainische Pianist Igor Gryshyn jetzt neben Skrjabins Préludes op. 22 und dessen vierter Klaviersonate eingespielt hat.
Anders als sein Altersgenosse Sylvestrow wurde der ukrainische Komponist Nikolai Kapustin (1937 bis 2020) im Klassikbetrieb lange Zeit kaum als ureigene Stimme wahrgenommen. Vielleicht haben viele Interpreten seine Musik übergangen, weil ihre Oberfläche dieses Eigene eher verbarg als vorzeigte? Als brillanter, von russischer Schule geprägter Pianist, hat Kapustin melodischharmonische, rhythmische und gestische Ausdrucksmöglichkeiten des Jazz autodidaktisch umfassend adaptiert und damit die Formen europäischer Kunstmusik unterfüttert, umgekehrt aber auch die Jazzidiomatik mit barocken, klassischen und romantischen Gestaltungstechniken kompositorisch durchdrungen.
Die junge südkoreanische Pianistin Yeol Eum Son hat nun ein technisch wie interpretatorisch spektakuläres Kapustin-Album vorgelegt. Es enthält die Konzertetüden op. 40, die zwischen berstender Vitalität und düsterer Melancholie schwankende zweite Klaviersonate und neben weiteren Werken auch „Moon Rainbow“, die wohl letzte Komposition des vor zwei Jahren gestorbenen Meisters. Son punktet mit schwindelerregender Virtuosität, unbestechlichen Tempi, transparentem Spiel und kontrollierter, aber stets natürlich wirkender Spannung.
Igor Gryshyn: „Transitions“: Klavierwerke von Viktor Kossenko (Études op. 8) und Alexander Skrjabin (Préludes op. 22 / Sonate Nr. 4); Orchid Classics (Vertrieb: Naxos).
Nikolaj Kapustin: 8 Konzertetüden op. 40, „Moon Rainbow“, Sonate Nr. 2 u.a.; Yeol Eum Son (Klavier); Onyx (Vertrieb: Note 1).