Balkanstaaten fürchten russische Intervention
30 Jahre nach dem Krieg drohen in Bosnien und Herzegowina neue Konflikte – Großer Einfluss Moskaus in der Region
- „Willkommen in Sarajevo“steht auf dem Schild an der Straße vom Flughafen ins Zentrum. Und darunter: „1425 Tage belagert.“30 Jahre ist der Krieg in Bosnien nun her, aber aus dem Gedächtnis des Landes ist er nicht verschwunden. Die Wiesen zwischen den großen Wohnblocks sind übersät mit Gänseblümchen und Löwenzahn. Aber an den Fassaden klaffen die brutalen Spuren von Granatsplittereinschlägen.
Frieden ist kostbar, und er ist zerbrechlich, vor allem hier auf dem Balkan, wo eine lange Geschichte, verschiedene Volksgruppen und jede Menge Einfluss von außen an ihm zerren. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat nun die Sorge verstärkt, dass auch in der südosteuropäischen Nachbarschaft die Dinge aus dem ohnehin schon labilen Gleichgewicht geraten könnten. Und dass Russland genau daran arbeitet. „Wir müssen dafür sorgen, dass diese Region stabil bleibt“, sagt Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD).
Sie ist gleich nach der Kabinettsklausur in Meseberg zu einer dreitägigen Tour durch den Westbalkan aufgebrochen und beginnt ihren Besuch bei ihrem Kollegen Sifet Podzic in Bosnien und Herzegowina. Der wertet die Visite vor allem als Zeichen für die Zusammenarbeit seines Landes mit EU und Nato. Das ist es, wo er und seine Regierung hinwollen – aber der Weg ist noch weit und längst nicht unumkehrbar. Woran das liegt, sagt Podzic ziemlich unumwunden: „Uns droht Gefahr von der Russischen Föderation.“
Zuletzt hat sich die Situation verschärft: Der Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina besteht aus der bosnischen Serbenrepublik (Republika Srpska/RS) und der bosnischkroatischen Föderation (FBiH). Die Serbenrepublik unter ihrem Führer Milorad Dodik, der aus seiner Nähe zu Kremlchef Wladimir Putin keinen Hehl macht, würde sich am liebsten Serbien anschließen. Ein deutlicher Alarmruf kam jüngst vom demokratischen US-Senator Chris Murphy. „Wenn Putin in die Enge getrieben wird, wird er sich nach anderen Orten umsehen, an denen er Siege erringen kann. Und einer davon könnte Bosnien sein“, sagte er. Auch NatoGeneralsekretär
Jens Stoltenberg nannte Bosnien ein mögliches Ziel „weiterer russischer Interventionen“.
Russland pflegte über Jahrhunderte brüderliche Beziehungen zu den Serben auf dem Balkan – aufgrund des gemeinsamen slawischen und orthodoxen Erbes sowie ihrer Bündnisse während der Weltkriege. Das Eingreifen der Nato in die Balkan-Kriege empfand der Kreml als Demütigung und als Provokation – entsprechend harsch sind die Warnungen vor einem Nato-Beitritt Bosniens, die an die Rhetorik gegenüber der Ukraine erinnern.
Und der Westen hat die Eskalation auf dem Balkan nach Einschätzung
von Experten viel zu lange laufen lassen. Umso intensiver sind nun die Aktivitäten – auch Deutschlands. Am Mittwoch empfing Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erst den kosovarischen Ministerpräsidenten Albin Kurti, dann den serbischen Staatspräsidenten Aleksandar Vucic, und er will demnächst auch persönlich auf den Westbalkan reisen. Vucic wiederum verlängerte seinen Aufenthalt in Deutschland, um auch noch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zu treffen.
Die wiederum hatte jüngst in Aussicht gestellt, sogar wieder Bundeswehrsoldaten nach Bosnien zu schicken, um den EU-Stabilisierungseinsatz EUFOR Althea zu unterstützen.
Lambrecht allerdings klingt in Sarajevo deutlich zurückhaltender. Deutschland werde sich für die Fortsetzung der Mission einsetzen, verspricht sie, aber deutsche Soldaten zusagen möchte sie nicht. In der Bundeswehr wird zum einen gezweifelt, ob eine weitere Aufstockung der Mission wirklich nötig ist – und zum anderen darauf hingewiesen, dass es mit mehr Soldaten allein auch nicht getan wäre: Nötig sei angesichts des bergigen Geländes beispielsweise Lufttransport, damit die Einsatzkräfte im Falle eines Falles auch schnell vor Ort sein können.
In Belgrad trifft Lambrecht schließlich als drittes deutsches Kabinettsmitglied binnen 24 Stunden
Präsident Vucic. Der lässt in der anschließenden Pressekonferenz erkennen, dass er durchaus Druck aus Deutschland verspürt – auch angesichts der ökonomischen Macht. Fragen nach dem serbischen Bekenntnis zu Frieden und Stabilität auf dem Balkan und zur Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine bürstet er ab: „Ich habe das schon 6000-mal wiederholt“, klagt er. Die Sanktionen allerdings trägt sein Land nicht mit – zu schmerzhaft sei die Erinnerung an die in den 1990erJahren selbst erlittenen Sanktionen. Nicht ganz eindeutig mag sich Vucic auch zum Problem der Unabhängigkeit des Kosovo äußern. Ein „Kompromiss“sei die einzige Lösung.
Mit weiteren 52 Millionen Euro für Reformen und Wiederaufbau unterstützt die EU die Republik Moldau. „Die letzten Jahre waren mit der Covid-19-Pandemie, der Gaskrise und jetzt den Folgen von Russlands Krieg gegen die Ukraine äußerst schwierig“, sagte der für Nachbarschaft und Erweiterung zuständige EUKommissar Olivér Várhelyi am Donnerstag. Zudem betonte er, die Reaktion der moldauischen Bevölkerung auf die Flüchtlingsbewegung der Ukrainerinnen und Ukrainer sei beispielhaft gewesen. UN-Angaben zufolge sind in das kleine Land mit gut 2,5 Millionen Einwohnern bereits 450 000 Menschen aus der Ukraine geflohen. Die EU unterstützt Moldau nach Angaben der Kommission bereits mit Krisenhilfen in Höhe von knapp 250 Millionen Euro. Mit dem Geld sollen unter anderem menschenwürdige und effiziente Verfahren bei der Versorgung von Geflüchteten finanziert werden. Am Mittwoch hatte EU-Ratspräsident Charles Michel bei einem Besuch in der Republik angekündigt, dass die EU ihre Militärhilfe für das Land ausbauen wolle, ohne jedoch Details zu nennen.
In Moldaus seit Jahrzehnten abtrünniger Konfliktregion Transnistrien, die an die Ukraine grenzt, kam es zuletzt immer wieder zu Gewalt. Die transnistrischen Separatisten und Moskau machen die Ukraine verantwortlich – zuletzt etwa für einen versuchten Drohnenangriff auf eine Funkstation. Kiew dementiert dies. In der Region sind etwa 1500 russische Soldaten stationiert, die alte Waffen- und Munitionsdepots sichern sollen, aber zugleich als Stütze des Separatistenregimes gelten. Die mehrheitlich russische und ukrainische Bevölkerung in Transnistrien hatte sich 1990 abgespalten, als die Nationalbewegung der Moldau eine Vereinigung mit Rumänien anstrebte. (dpa)