Wenn der Hahn zugedreht wird
Beim Stopp von Gasimporten droht Deutschland eine Rezession – Besonders fatal wären die Folgen im Südwesten
- Bevor das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim ein neues Produkt auf den Markt bringen kann, vielleicht zur Behandlung von Herzinfarkten oder Lungenkrankheiten, vergehen viele Jahre. Geforscht wird am Standort Biberach. Ohne Pipetten und Petrischalen, ohne Zellkulturen und Wirkstoffe die aufgespalten oder kombiniert werden, wären Forschung und Entwicklung an Medikamenten und Arzneien für Mensch und Tier nicht möglich. Mindestens genau so wichtig ist Energie für Strom, Hitze oder Kälte. Und der Träger für einen großen Teil dieser Energie ist Gas – Gas, das bei dem Unternehmen „zu mehr als der Hälfte aus Russland stammt“, wie ein Sprecherin von Boehringer Ingelheim der „Schwäbischen Zeitung“sagte. Zwar habe die Mehrheit der Produktionsstandorte als „kurzfristige Zwischenlösung“Zugang zu alternativen Energiequellen und man weite, wo möglich, bereits die Produktion aus, um Lagerbestände zu erhöhen – allerdings seien diese Kapazitäten begrenzt.
Der Pharmakonzern Boeringer Ingelheim ist nur ein Beispiel für die Tatsache, dass unzählige Industrieunternehme auf Erdgas angewiesen sind – allen voran die Chemieund Pharmabranche, die Gas nicht nur als Energieträger, sondern auch als Grundstoff nutzt. BASF-Chef Martin Brudermüller erklärte jüngst im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen“, der Konzern habe keine Chance, russisches Gas kurzfristig vollständig zu ersetzen. Der Manager warnte gar vor dem Ende des Industriestandortes Deutschland.
Ein Szenario, das nun auch Berechnungen des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) bestätigen, wonach bei einem Lieferstopp russischen Gases insbesondere dort mit großen wirtschaftlichen Schäden zu rechnen sei, „wo das Verarbeitende Gewerbe eine besonders hohe Wertschöpfung erzielt, etwa in etlichen Kreisen und Städten Süddeutschlands“. Das ÖkonomenTeam um IWH-Vizepräsident Oliver Holtemöller hat bis hinunter auf die Ebene der 401 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland berechnet, wie stark Wirtschaftsleistung und Beschäftigung beeinträchtigt wären.
Grundlage der Berechnungen des IWH ist die Annahme, dass es bei einem Gas-Lieferstopp zu keinen Rationierungen der Vorräte kommt, die Speicher zum Jahreswechsel 2022/ 2023 entleert sind und im Frühjahr 2023 die gelieferten Gasmengen an verschiedene Industriezweige proportional gekürzt werden. Die Szenario-Analyse nimmt eine höhere Gasabhängigkeit in Segmenten des Verarbeitenden Gewerbes, also allen Spielarten industrieller Produktion, an. Laut Statistiken verbraucht dieser Sektor etwa 37 Prozent des deutschen Gases. Die Berechnungen gehen davon aus, dass praktisch ab sofort kein neues russisches Gas mehr in der EU verfügbar ist, und der Gaspreis auf fast das Doppelte steigt.
Baden-Württemberg wird in diesem Szenario für 2022 und 2023 ein Rückgang der Bruttowertschöpfung um 35,4 Milliarden Euro prognostiziert. Mit allen negativen Konsequenzen, etwa steigender Arbeitslosigkeit. So waren laut Wirtschaftsministerium im Landkreis Tuttlingen 2020 knapp 57 Prozent aller Arbeitnehmer in der Industrie, vor allem im Maschinenbau und der Herstellung von Metallerzeugnissen, beschäftigt. In Biberach waren fast 47 Prozent im Maschinenbau und der Produktion elektrischer Ausrüstungen tätig. Und in Rastatt waren knapp 45 Prozent der Arbeitnehmer im Automobil- und Elektrobereich angestellt.
Damit wäre der Südwesten in den Berechnungen des IWH mit einem Rückgang der Wertschöpfung von 7,7 Prozent das am stärksten betroffen Bundesland. Mehr als 400 000 Arbeitslose mehr könnte es bedeuten. Am glimpflichsten käme Mecklenburg-Vorpommern davon, mit einem allerdings immer noch schmerzhaften Rückgang der Wertschöpfung um 5,1 Prozent und rund 38 000 Arbeitslosen zusätzlich. Die Forscher des IWH haben ihre Berechnungen mittels komplexer stochastischer Formeln und Modelle durchgeführt. Grundlage waren Statistiken aus der Wirtschaft und zu deutschen Gasspeichern, aber auch tatsächliche und mögliche Liefermengen aus anderen Staaten.
Es gibt jedoch auch Wirtschaftsexperten, die Befürchtungen wie jene des BASF-Chefs als übertrieben ansehen. Der Wirtschaftsprofessor Rüdiger Bachmann ist der Ansicht, Deutschland könnte ein Gasembargo gegen Russland wirtschaftlich verkraften. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse von Bachmann und Kollegen in der unter Ökonomen unstrittenen Studie „What if“(Was wäre wenn). Einer der beteiligten Ökonomen ist Andreas Löschel, an der Ruhr-Universität Bochum lehrt und forscht er unter anderem zu Energieund Wirtschaftspolitik. Er sagt, auch die Berechnungen des IWH würden in die von Löschel, Bachmann und anderen angestellten Überlegungen passen. „Die massiven Preisanstiege bei Öl und Gas werden im kommenden Winter ohnehin kommen und massive Verwerfungen auslösen – die zentrale Frage lautet daher: Wer muss sparen, wird das Gas knapp?“
Dass die Kosten in Regionen mit energieintensiver Industrie – solche findet sich im gesamten Südwesten – in jedem Fall aber hoch sein werden, bestreitet Löschel nicht. „Es wird eine schwere Rezession im Falle eines Gasembargos geben, da sind sich die Studien einig. Entscheidend wird sein, wie die Politik darauf reagiert. Ich glaube aber, dass das handhabbar ist.“Der Ökonom erläutert, man müsse in jedem Fall Optionen aktivieren und bereits jetzt überlegen, wie weitere Einsparpotentiale genutzt werden können.
Letztlich würden die hohen Energiepreise als Anreize des Marktes alle Verbraucher ohnehin zu Anpassungen zwingen. Derzeitige Subventionen für Unternehmen seien daher nicht der richtige Weg. „Aktuell wird Energie politisch günstig gemacht. Das sollten wir nicht tun. Stattdessen sollte stark betroffenen Unternehmen und Haushalten geholfen werden.“Natürlich habe das Haben oder eben Nicht-Haben von Gas schwerwiegende Auswirkungen auf Unternehmer, Arbeitnehmer, den Wohlstand im Land. Und: „Alternativen zum Gas zu finden ist für Unternehmen sehr teuer. Aber statt Verbrauch günstig zu machen, sollte der Staat Einsparungen unterstützen“, argumentiert Löschel. Der Ökonom hat Ideen, wie Deutschland sich für einen Lieferstopp bei russischem Gas wappnen kann: Prämien für Unternehmen durch Gaseinspar-Auktionen. Dabei verkündet der Staat, wie viel Gas er sparen möchte und sammelt Gebote für diese Einsparungen von Unternehmen. Das günstigste Angebot erhält den Zuschlag.
Auf diese Weise will Löschel verhindern, dass der sogenannte Notfallplan Energieversorgung aktiviert werden muss. Darin ist vorgesehen, dass bei einem Lieferstopp russischen Gases Einsparungen auf Anordnung der Bundesnetzagentur zuerst in der Industrie vorgenommen werden, ehe Privathaushalten der Strom oder die Heizung abgestellt wird. „Dieser Notfallplan macht es ökonomisch eigentlich genau falschherum: Gassperren für die Industrie würden die höchsten Kosten verursachen, bei Haushalten wären die Kosten am geringsten“, sagt Löschel. Heißt, lieber zu Hause drei Pullover anziehen, ehe der Arbeitsplatz gefährdet ist.
Debatten, die im Cluster Medizintechnik in Tuttlingen aller Voraussicht nach aufmerksam verfolgt werden. Dort produziert Henke-SassWolf optische und mechanische Komponenten. „Im Hightech-Maschinenpark stellen über 40 CNCBearbeitungszentren mechanische Komponenten her“, erzählt Betriebsleiter Boban Ivanovic. Doch seit Monaten steigen Stromkosten.
Mit einem Bau eines mit Gas betriebenen Blockheizkältekraftwerks, das Strom zum Grundlastausgleich herstellt und Wärme in Kälte umwandelt, wollte das Unternehmen den Befreiungsschlag wagen. Wie von der Politik viele Jahre propagiert, sollte das Projekt eine Brückentechnologie bilden, bis mittelfristig erneuerbare Energien die Versorgung sicherstellen und grüner Wasserstoff das Gas ersetzt.
Doch nun sitzt das Unternehmen, wie ganz Deutschland, in der GasFalle. Bis Wasserstoff in Deutschland ein Pfeiler der Industrieproduktion sein kann, werden noch Jahre vergehen und viel Geld nötig sein. Das Aus für billiges russisches Gas könnte dagegen schon bald kommen.