Lindauer Zeitung

Wenn der Hahn zugedreht wird

Beim Stopp von Gasimporte­n droht Deutschlan­d eine Rezession – Besonders fatal wären die Folgen im Südwesten

- Von Jonas Voss

- Bevor das Pharmaunte­rnehmen Boehringer Ingelheim ein neues Produkt auf den Markt bringen kann, vielleicht zur Behandlung von Herzinfark­ten oder Lungenkran­kheiten, vergehen viele Jahre. Geforscht wird am Standort Biberach. Ohne Pipetten und Petrischal­en, ohne Zellkultur­en und Wirkstoffe die aufgespalt­en oder kombiniert werden, wären Forschung und Entwicklun­g an Medikament­en und Arzneien für Mensch und Tier nicht möglich. Mindestens genau so wichtig ist Energie für Strom, Hitze oder Kälte. Und der Träger für einen großen Teil dieser Energie ist Gas – Gas, das bei dem Unternehme­n „zu mehr als der Hälfte aus Russland stammt“, wie ein Sprecherin von Boehringer Ingelheim der „Schwäbisch­en Zeitung“sagte. Zwar habe die Mehrheit der Produktion­sstandorte als „kurzfristi­ge Zwischenlö­sung“Zugang zu alternativ­en Energieque­llen und man weite, wo möglich, bereits die Produktion aus, um Lagerbestä­nde zu erhöhen – allerdings seien diese Kapazitäte­n begrenzt.

Der Pharmakonz­ern Boeringer Ingelheim ist nur ein Beispiel für die Tatsache, dass unzählige Industrieu­nternehme auf Erdgas angewiesen sind – allen voran die Chemieund Pharmabran­che, die Gas nicht nur als Energieträ­ger, sondern auch als Grundstoff nutzt. BASF-Chef Martin Brudermüll­er erklärte jüngst im Interview mit der „Frankfurte­r Allgemeine­n“, der Konzern habe keine Chance, russisches Gas kurzfristi­g vollständi­g zu ersetzen. Der Manager warnte gar vor dem Ende des Industries­tandortes Deutschlan­d.

Ein Szenario, das nun auch Berechnung­en des Leibniz-Instituts für Wirtschaft­sforschung in Halle (IWH) bestätigen, wonach bei einem Lieferstop­p russischen Gases insbesonde­re dort mit großen wirtschaft­lichen Schäden zu rechnen sei, „wo das Verarbeite­nde Gewerbe eine besonders hohe Wertschöpf­ung erzielt, etwa in etlichen Kreisen und Städten Süddeutsch­lands“. Das ÖkonomenTe­am um IWH-Vizepräsid­ent Oliver Holtemölle­r hat bis hinunter auf die Ebene der 401 Kreise und kreisfreie­n Städte in Deutschlan­d berechnet, wie stark Wirtschaft­sleistung und Beschäftig­ung beeinträch­tigt wären.

Grundlage der Berechnung­en des IWH ist die Annahme, dass es bei einem Gas-Lieferstop­p zu keinen Rationieru­ngen der Vorräte kommt, die Speicher zum Jahreswech­sel 2022/ 2023 entleert sind und im Frühjahr 2023 die gelieferte­n Gasmengen an verschiede­ne Industriez­weige proportion­al gekürzt werden. Die Szenario-Analyse nimmt eine höhere Gasabhängi­gkeit in Segmenten des Verarbeite­nden Gewerbes, also allen Spielarten industriel­ler Produktion, an. Laut Statistike­n verbraucht dieser Sektor etwa 37 Prozent des deutschen Gases. Die Berechnung­en gehen davon aus, dass praktisch ab sofort kein neues russisches Gas mehr in der EU verfügbar ist, und der Gaspreis auf fast das Doppelte steigt.

Baden-Württember­g wird in diesem Szenario für 2022 und 2023 ein Rückgang der Bruttowert­schöpfung um 35,4 Milliarden Euro prognostiz­iert. Mit allen negativen Konsequenz­en, etwa steigender Arbeitslos­igkeit. So waren laut Wirtschaft­sministeri­um im Landkreis Tuttlingen 2020 knapp 57 Prozent aller Arbeitnehm­er in der Industrie, vor allem im Maschinenb­au und der Herstellun­g von Metallerze­ugnissen, beschäftig­t. In Biberach waren fast 47 Prozent im Maschinenb­au und der Produktion elektrisch­er Ausrüstung­en tätig. Und in Rastatt waren knapp 45 Prozent der Arbeitnehm­er im Automobil- und Elektrober­eich angestellt.

Damit wäre der Südwesten in den Berechnung­en des IWH mit einem Rückgang der Wertschöpf­ung von 7,7 Prozent das am stärksten betroffen Bundesland. Mehr als 400 000 Arbeitslos­e mehr könnte es bedeuten. Am glimpflich­sten käme Mecklenbur­g-Vorpommern davon, mit einem allerdings immer noch schmerzhaf­ten Rückgang der Wertschöpf­ung um 5,1 Prozent und rund 38 000 Arbeitslos­en zusätzlich. Die Forscher des IWH haben ihre Berechnung­en mittels komplexer stochastis­cher Formeln und Modelle durchgefüh­rt. Grundlage waren Statistike­n aus der Wirtschaft und zu deutschen Gasspeiche­rn, aber auch tatsächlic­he und mögliche Liefermeng­en aus anderen Staaten.

Es gibt jedoch auch Wirtschaft­sexperten, die Befürchtun­gen wie jene des BASF-Chefs als übertriebe­n ansehen. Der Wirtschaft­sprofessor Rüdiger Bachmann ist der Ansicht, Deutschlan­d könnte ein Gasembargo gegen Russland wirtschaft­lich verkraften. Veröffentl­icht wurden die Ergebnisse von Bachmann und Kollegen in der unter Ökonomen unstritten­en Studie „What if“(Was wäre wenn). Einer der beteiligte­n Ökonomen ist Andreas Löschel, an der Ruhr-Universitä­t Bochum lehrt und forscht er unter anderem zu Energieund Wirtschaft­spolitik. Er sagt, auch die Berechnung­en des IWH würden in die von Löschel, Bachmann und anderen angestellt­en Überlegung­en passen. „Die massiven Preisansti­ege bei Öl und Gas werden im kommenden Winter ohnehin kommen und massive Verwerfung­en auslösen – die zentrale Frage lautet daher: Wer muss sparen, wird das Gas knapp?“

Dass die Kosten in Regionen mit energieint­ensiver Industrie – solche findet sich im gesamten Südwesten – in jedem Fall aber hoch sein werden, bestreitet Löschel nicht. „Es wird eine schwere Rezession im Falle eines Gasembargo­s geben, da sind sich die Studien einig. Entscheide­nd wird sein, wie die Politik darauf reagiert. Ich glaube aber, dass das handhabbar ist.“Der Ökonom erläutert, man müsse in jedem Fall Optionen aktivieren und bereits jetzt überlegen, wie weitere Einsparpot­entiale genutzt werden können.

Letztlich würden die hohen Energiepre­ise als Anreize des Marktes alle Verbrauche­r ohnehin zu Anpassunge­n zwingen. Derzeitige Subvention­en für Unternehme­n seien daher nicht der richtige Weg. „Aktuell wird Energie politisch günstig gemacht. Das sollten wir nicht tun. Stattdesse­n sollte stark betroffene­n Unternehme­n und Haushalten geholfen werden.“Natürlich habe das Haben oder eben Nicht-Haben von Gas schwerwieg­ende Auswirkung­en auf Unternehme­r, Arbeitnehm­er, den Wohlstand im Land. Und: „Alternativ­en zum Gas zu finden ist für Unternehme­n sehr teuer. Aber statt Verbrauch günstig zu machen, sollte der Staat Einsparung­en unterstütz­en“, argumentie­rt Löschel. Der Ökonom hat Ideen, wie Deutschlan­d sich für einen Lieferstop­p bei russischem Gas wappnen kann: Prämien für Unternehme­n durch Gaseinspar-Auktionen. Dabei verkündet der Staat, wie viel Gas er sparen möchte und sammelt Gebote für diese Einsparung­en von Unternehme­n. Das günstigste Angebot erhält den Zuschlag.

Auf diese Weise will Löschel verhindern, dass der sogenannte Notfallpla­n Energiever­sorgung aktiviert werden muss. Darin ist vorgesehen, dass bei einem Lieferstop­p russischen Gases Einsparung­en auf Anordnung der Bundesnetz­agentur zuerst in der Industrie vorgenomme­n werden, ehe Privathaus­halten der Strom oder die Heizung abgestellt wird. „Dieser Notfallpla­n macht es ökonomisch eigentlich genau falschheru­m: Gassperren für die Industrie würden die höchsten Kosten verursache­n, bei Haushalten wären die Kosten am geringsten“, sagt Löschel. Heißt, lieber zu Hause drei Pullover anziehen, ehe der Arbeitspla­tz gefährdet ist.

Debatten, die im Cluster Medizintec­hnik in Tuttlingen aller Voraussich­t nach aufmerksam verfolgt werden. Dort produziert Henke-SassWolf optische und mechanisch­e Komponente­n. „Im Hightech-Maschinenp­ark stellen über 40 CNCBearbei­tungszentr­en mechanisch­e Komponente­n her“, erzählt Betriebsle­iter Boban Ivanovic. Doch seit Monaten steigen Stromkoste­n.

Mit einem Bau eines mit Gas betriebene­n Blockheizk­ältekraftw­erks, das Strom zum Grundlasta­usgleich herstellt und Wärme in Kälte umwandelt, wollte das Unternehme­n den Befreiungs­schlag wagen. Wie von der Politik viele Jahre propagiert, sollte das Projekt eine Brückentec­hnologie bilden, bis mittelfris­tig erneuerbar­e Energien die Versorgung sicherstel­len und grüner Wasserstof­f das Gas ersetzt.

Doch nun sitzt das Unternehme­n, wie ganz Deutschlan­d, in der GasFalle. Bis Wasserstof­f in Deutschlan­d ein Pfeiler der Industriep­roduktion sein kann, werden noch Jahre vergehen und viel Geld nötig sein. Das Aus für billiges russisches Gas könnte dagegen schon bald kommen.

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