Die modernen Stadtschreiber
Flanieren, Schreiben, bei den Menschen sein – Schriftsteller im Dienst der Gesellschaft
(dpa) - Hoch oben, mit einem weiten Blick über die Dächer der Stadt wohnt die zehnte Stadtschreiberin Magdeburgs, Katja Hensel. „Der ideale Ort. Im Grunde so, wie man sich Stadtschreiber vorstellt. In einem Turm“, sagt sie. Hensels Stadtschreiber-Wohnung liegt im achten Stock. Fast überall sind Fenster und morgens scheint die Sonne von Osten rein. Seit dem 1. März wohnt die gebürtige Hamburgerin hier und wird für die nächsten sieben Monate bleiben. Von ihrer Dachterrasse aus hat sie einen 360-Grad-Blick über Magdeburg. „Intel wird die Stadt verändern“, sagt Hensel zur geplanten Ansiedlung des US-Chipherstellers. Wohin soll sich die Stadt verändern? Zukunftsvisionen von Städten, das interessiert sie als Stadtschreiberin. Jetzt sei der Raum da, selber mitzugestalten.
Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt Magdeburg ist eine von mehreren deutschen Städten, die ein Stadtschreiber-Stipendium vergeben. Das machen unter anderem auch Mainz, Halle (Saale), Tübingen und Dresden. Diese moderne Tradition, angelehnt an die historischen Stadtschreiber ab dem 13. Jahrhundert, hat 1974 in Bergen-Enkheim bei Frankfurt begonnen. Der Schriftsteller Franz Joseph Schneider wollte freien
Schriftstellern die Möglichkeit geben, ein Jahr lang finanziell unabhängig zu leben.
Je nach Stadt werden Stadtschreiberinnen und Stadtschreiber von einer Jury vorgeschlagen oder bewerben sich auf Eigeninitiative. Das Stadtschreiberamt geht bis zu einem Jahr. Dabei erhalten die Schriftsteller und Schriftstellerinnen eine Gesamtsumme von einem vier- bis fünfstelligen Bereich ausgezahlt. Außerdem bekommen sie eine Wohnung gestellt.
„Stadtschreiber beleben die kulturelle Szene unserer Stadt, sie wirken als Botschafter weit über die Stadtgrenzen hinaus“, sagt eine Sprecherin. Sie beobachteten das Geschehen in einer Stadt, sie sollten inspirieren und „entsprechende Impulse in die Stadt und in die Kulturlandschaft hineintragen“.
Hensel möchte selbst schreiben und in Lesungen das präsentieren, was sie in Magdeburg erlebe. Den Stadtschreiber-Blog der Stadt werde sie weiterführen. Fördern will sie das kreative Schreiben von Kindern und Jugendlichen, zum Beispiel in Workshops, die sich mit der Sprache beschäftigen.
In das neue Leben als 37. Stadtschreiberin von Mainz tastet sich die Bestsellerautorin Dörte Hansen („Altes Land“) jetzt erst so langsam. Sie folgt auf Eugen Ruge und hat bis vor ein paar Wochen noch an ihrem neuen Roman geschrieben. „Das Wesen der Fastnacht zu begreifen - sofern das einem Menschen aus Nordfriesland überhaupt gelingen kann“, das möchte Hansen im Laufe ihres Stadtschreiberinnen-Jahres versuchen. Sich in die Mainzer Mundart einzuhören und durch die Straßen zu flanieren mache für sie die Stadtschreiberinnen-Tätigkeit aus, vielleicht führe sie dabei auch eine Art Logbuch. Sie habe aber noch viel zu lernen, da sie vor ihrem Amtsantritt noch nie in Mainz gewesen sei. Besonders freue sie sich auf „das Zuhören, das Hinsehen und das Kennenlernen“– ein Jahr lang eine neue Stadt erkunden zu dürfen, sei für sie ein großes Geschenk.
„Als Stadtschreiberin ist man so eine Art Flaneur, aber Flaneur nicht im Sinne von einfach nur Spazieren gehen und gucken, sondern angespannt sein und bereit, alle möglichen Stimuli aufzufangen“, sagt Barbara Thériault, die neue Stadtschreiberin von Halle an der Saale. Sie will Menschen in verschiedenen Salons die Haare schneiden, beobachten oder sich mit Leuten unterhalten. Im Salon habe man Zeit und die Person sei „quasi vor einem auf einem Stuhl gefangen“. Über die Stadt, die Einwohner, die Orte oder die Beobachtungen aus dem Alltag möchte sie Texte schreiben, die vielleicht auch noch in fünf Jahren gelesen werden können.