Eine Frage der Ansprache
Der VfB Stuttgart muss in München zwingend punkten – Doch der Mannschaft macht der Druck zu schaffen
- Plötzlich wurde Pellegrino Matarazzo nachdenklich. Ja, sagte er nach einer kurzen Pause des Sinnierens, auch er habe sich zuletzt mehrfach gefragt, ob es die richtige Strategie war, die er als Trainer und die anderen Verantwortlichen beim VfB Stuttgart eingeschlagen haben. War es wirklich richtig, trotz akuter Abstiegsgefahr die Ruhe zu bewahren? Oder hätte es eventuell doch mehr Erfolg gebracht, mal auf den Tisch zu hauen. „Wir haben immer wieder überlegt, was die richtige Ansprache ist. Zieht man das Positive raus oder erhöht man den Druck auf die Spieler? Das kann man schon diskutieren“, sagte der Coach, aber wissen könne man es eben nicht.
Dennoch wird die Kritik an der Stille immer lauter. „Mir war da über weite Strecken zu viel Friede, Freude, Eierkuchen“, sagte jüngst Ex-Profi und Ex-Trainer Markus Babbel der „Stuttgarter Zeitung“. „Ich glaube, man hätte da zwischendurch mal Klartext reden müssen, auch laut nach außen. Es ist alles nett – aber nur mit nett wirst du nicht in der Liga bleiben.“
Trotzdem halten die Schwaben unbeirrt am eingeschlagenen Weg der Besonnenheit fest. Wohl auch, weil der jüngste Kader der Bundesliga schon ohne zusätzlichen Druck an der aktuellen Situation zu zerbrechen droht. Als Beleg reicht ein Blick auf Sasa Kalajdzic. Der österreichische Nationalstürmer war in der Vorsaison der Erfolgsgarant für eine euphorisierende Saison am Wasen, mit 16 Bundesliga-Toren schoss sich der 24-Jährige auf zahlreiche Einkaufszettel großer Clubs. Doch von der Leichtigkeit von damals ist kaum noch etwas übrig. Fast schon verzweifelt wirkt manchmal der Blick des Angreifers, wenn sich die Stuttgarter mal wieder in der Abwehr des Gegners festgerannt haben. „Es fühlt sich immer so an, als müssten wir uns jedes Tor hart erarbeiten“, bemängelte der Österreicher, dem zuletzt beim 1:1 gegen den VfL Wolfsburg kein einziger Schuss aufs Tor gelang.
Dabei ist der VfB zwingend auf die Beschlussqualitäten seines Mittelstürmers angewiesen. Gelingt ihm am Sonntag (17.30 Uhr/DAZN) beim bereits feststehenden Meister FC Bayern nicht mindestens ein Punkt, können die Schwaben den direkten Klassenerhalt nicht mehr erreichen. Bei nur zwei Punkten Vorsprung auf Arminia Bielefeld ist selbst der Relegationsplatz in höchster Gefahr. Es droht nach 2016 und 2019 der dritte Abstieg innerhalb weniger Jahre.
Der enorme Druck hinterlässt auch beim verantwortlichen Übungsleiter Spuren. „Es ist sicherlich kein Spaziergang“, sagte Matarazzo über sein persönliches Empfinden im Abstiegskampf – sofort war er aber wieder bemüht, den ihn auszeichnenden Optimismus auszustrahlen. Bisher kriege er es „immer wieder hin, die Kraft herzuholen“, betonte der 43-Jährige. „Ich habe eine Familie, die hinter mir steht. Nicht nur meine Frau und mein Sohn, auch meine Familie in den Staaten und in Italien. Ich habe einen brutalen Support.“Und, schob er ausdrücklich nach: „Ich habe eine Mannschaft, die an Bord ist, die mir den Glauben schenkt, dass wir es schaffen werden. Und wir werden es schaffen.“
Gegen die Bayern gehe es nun darum „aufzustehen, schlagkräftig zu werden, daran zu glauben und Energie auf den Platz zu bringen“. Man wolle in München unbedingt punkten. Meisterfeier hin oder her. Dass der Großteil der Bayern-Profis bereits in den Partymodus geschaltet und den zehnten Titel in Serie mit einem IbizaTrip gefeiert hat, sieht der VfB-Coach nicht als Vorteil für sein Team. „Es ist nicht so, dass jemand fünf Tage weg und auf einer Sauftour war. Man hat zwei Tage frei bekommen und war ein bisschen unterwegs“, sagte er. Er erwarte, dass der deutsche Meister mit einem Sieg die Schale entgegennehmen will. Aber: „Wir fahren nicht da hin, um eine Party mitzufeiern, sondern, um unsere eigene Geschichte zu schreiben.“Und an deren Ende soll bitteschön ein Happy End stehen.
Maximilian Nagelsmann darf sich freuen. Der Sohnemann von Vater Julian ist sieben Jahre alt, hat also seit Geburt noch keinen anderen Meister als den FC Bayern erlebt.
Neu für den Spross der Nagelsmanns jedoch: Dass sein Papa für den Meistertitel verantwortlich ist. Also bekommt der Kleine demnächst ein Andenken an den ersten Titel im Profibereich des 34-Jährigen. „Mein Sohn liebt Medaillen“, sagte Bayerns Cheftrainer vor dem letzten Heimspiel der Münchner gegen den VfB Stuttgart und überlegte laut: „Vielleicht gebe ich sie ihm. Der findet viele Orte zur Aufbewahrung, eine Kiste zum Beispiel.“
Eine enge Kiste war diese Premierenmeisterschaft für Nagelsmann, die zehnte in Folge für den Verein, nicht gerade. Zwölf Punkte Vorsprung auf den voraussichtlichen Vizemeister Borussia Dortmund und eine Titelverteidigung, die trotz fünf LigaPleiten nie wirklich in Gefahr war, sagen zweierlei aus: Der FC Bayern ist zu gut für die nationale Konkurrenz – und diese wiederum ist zu schwach, um den Branchenprimus gefährden zu können. Bitter für das Produkt Bundesliga. Ein Titelkampf? In Deutschlands Fußball-Oberhaus, zur „Bayernliga“mutiert, mittlerweile ein Fremdwort.
Das Debütjahr von Nagelsmann mit den Bayern war ein äußerst wechselhaftes. Eines, das Spuren hinterlassen hat. Zu viele Nebengeräusche (die Impfdebatte um Joshua Kimmich), zu viele Problemfelder außerhalb des Platzes (die wegen des bei Teilen der Fans umstrittenen Katar-Sponsorings ausgeartete Jahreshauptversammlung). Ein klassisches Lehrjahr für den gebürtigen Landsberger.
Die „Ibiza-Affäre“, im Nachhinein von Sportvorstand Hasan Salihamidzic als „Teambuilding-Maßnahme“verkauft, bildete den jüngsten Mosaikstein des Lernprozesses für Nagelsmann. Ein Großteil der Mannschaft nutzte die Ankündigung des Trainers für zweieinhalb freie Tage, um den Party-Trip zur Feier des Titels zu organisieren. Der vor, während und nach dem 1:3 in Mainz total angefressene Nagelsmann sagte am Freitag: „Die Spieler sind alt genug und mündig. Ich bin nicht ihr Papa oder ihr Erzieher. Und wenn sie sich als große Gruppe dazu entscheiden, ist das ihre Sache. Die Spieler dürfen diese Tage nutzen, wie sie wollen.“Der Fußballlehrer büßte an Autorität ein, das Geschmäckle am Ibiza-Trip bleibt haften.
Ebenso wie der indirekte Vorwurf der Wettbewerbsverzerrung, aufgebracht von Hertha-Trainer Felix Magath, der im Fernduell mit den VfB gegen den Abstieg kämpft. Man habe in Mainz „beschissen gespielt“, so Nagelsmann, allerdings nur „eine Verantwortung uns gegenüber und die Pflicht, in zwei Spielen gegen den VfB Stuttgart sechs Punkte zu holen.
Aber mehr haben wir dann auch nicht mit dem Abstiegskampf zu tun.“
Eher mit der Zukunft und der Frage, wie Titel Nummer elf in Serie anzugehen ist. Die Vertragsverlängerung von Thomas Müller bis 2024 sei „sehr wichtig, auch ein Zeichen nach außen und nach innen. Ich bin sehr froh darüber“, betonte Nagelsmann. Mit Blick auf die Wackelkandidaten Robert Lewandowski und Serge Gnabry (die Verträge laufen 2023 aus, ein Wechsel in diesem Sommer ist nicht ausgeschlossen) erklärte der Trainer zum x-ten Mal, dass er sie unbedingt behalten wolle: „Das kann auch andere mitziehen.“Schließlich will der Bayer noch viele Titel mit den Bayern holen. Sein Sohn hat schließlich noch ein wenig Platz im Kinderzimmer. (pst)