Lindauer Zeitung

Eine Frage der Ansprache

Der VfB Stuttgart muss in München zwingend punkten – Doch der Mannschaft macht der Druck zu schaffen

- Von Martin Deck

- Plötzlich wurde Pellegrino Matarazzo nachdenkli­ch. Ja, sagte er nach einer kurzen Pause des Sinnierens, auch er habe sich zuletzt mehrfach gefragt, ob es die richtige Strategie war, die er als Trainer und die anderen Verantwort­lichen beim VfB Stuttgart eingeschla­gen haben. War es wirklich richtig, trotz akuter Abstiegsge­fahr die Ruhe zu bewahren? Oder hätte es eventuell doch mehr Erfolg gebracht, mal auf den Tisch zu hauen. „Wir haben immer wieder überlegt, was die richtige Ansprache ist. Zieht man das Positive raus oder erhöht man den Druck auf die Spieler? Das kann man schon diskutiere­n“, sagte der Coach, aber wissen könne man es eben nicht.

Dennoch wird die Kritik an der Stille immer lauter. „Mir war da über weite Strecken zu viel Friede, Freude, Eierkuchen“, sagte jüngst Ex-Profi und Ex-Trainer Markus Babbel der „Stuttgarte­r Zeitung“. „Ich glaube, man hätte da zwischendu­rch mal Klartext reden müssen, auch laut nach außen. Es ist alles nett – aber nur mit nett wirst du nicht in der Liga bleiben.“

Trotzdem halten die Schwaben unbeirrt am eingeschla­genen Weg der Besonnenhe­it fest. Wohl auch, weil der jüngste Kader der Bundesliga schon ohne zusätzlich­en Druck an der aktuellen Situation zu zerbrechen droht. Als Beleg reicht ein Blick auf Sasa Kalajdzic. Der österreich­ische Nationalst­ürmer war in der Vorsaison der Erfolgsgar­ant für eine euphorisie­rende Saison am Wasen, mit 16 Bundesliga-Toren schoss sich der 24-Jährige auf zahlreiche Einkaufsze­ttel großer Clubs. Doch von der Leichtigke­it von damals ist kaum noch etwas übrig. Fast schon verzweifel­t wirkt manchmal der Blick des Angreifers, wenn sich die Stuttgarte­r mal wieder in der Abwehr des Gegners festgerann­t haben. „Es fühlt sich immer so an, als müssten wir uns jedes Tor hart erarbeiten“, bemängelte der Österreich­er, dem zuletzt beim 1:1 gegen den VfL Wolfsburg kein einziger Schuss aufs Tor gelang.

Dabei ist der VfB zwingend auf die Beschlussq­ualitäten seines Mittelstür­mers angewiesen. Gelingt ihm am Sonntag (17.30 Uhr/DAZN) beim bereits feststehen­den Meister FC Bayern nicht mindestens ein Punkt, können die Schwaben den direkten Klassenerh­alt nicht mehr erreichen. Bei nur zwei Punkten Vorsprung auf Arminia Bielefeld ist selbst der Relegation­splatz in höchster Gefahr. Es droht nach 2016 und 2019 der dritte Abstieg innerhalb weniger Jahre.

Der enorme Druck hinterläss­t auch beim verantwort­lichen Übungsleit­er Spuren. „Es ist sicherlich kein Spaziergan­g“, sagte Matarazzo über sein persönlich­es Empfinden im Abstiegska­mpf – sofort war er aber wieder bemüht, den ihn auszeichne­nden Optimismus auszustrah­len. Bisher kriege er es „immer wieder hin, die Kraft herzuholen“, betonte der 43-Jährige. „Ich habe eine Familie, die hinter mir steht. Nicht nur meine Frau und mein Sohn, auch meine Familie in den Staaten und in Italien. Ich habe einen brutalen Support.“Und, schob er ausdrückli­ch nach: „Ich habe eine Mannschaft, die an Bord ist, die mir den Glauben schenkt, dass wir es schaffen werden. Und wir werden es schaffen.“

Gegen die Bayern gehe es nun darum „aufzustehe­n, schlagkräf­tig zu werden, daran zu glauben und Energie auf den Platz zu bringen“. Man wolle in München unbedingt punkten. Meisterfei­er hin oder her. Dass der Großteil der Bayern-Profis bereits in den Partymodus geschaltet und den zehnten Titel in Serie mit einem IbizaTrip gefeiert hat, sieht der VfB-Coach nicht als Vorteil für sein Team. „Es ist nicht so, dass jemand fünf Tage weg und auf einer Sauftour war. Man hat zwei Tage frei bekommen und war ein bisschen unterwegs“, sagte er. Er erwarte, dass der deutsche Meister mit einem Sieg die Schale entgegenne­hmen will. Aber: „Wir fahren nicht da hin, um eine Party mitzufeier­n, sondern, um unsere eigene Geschichte zu schreiben.“Und an deren Ende soll bitteschön ein Happy End stehen.

Maximilian Nagelsmann darf sich freuen. Der Sohnemann von Vater Julian ist sieben Jahre alt, hat also seit Geburt noch keinen anderen Meister als den FC Bayern erlebt.

Neu für den Spross der Nagelsmann­s jedoch: Dass sein Papa für den Meistertit­el verantwort­lich ist. Also bekommt der Kleine demnächst ein Andenken an den ersten Titel im Profiberei­ch des 34-Jährigen. „Mein Sohn liebt Medaillen“, sagte Bayerns Cheftraine­r vor dem letzten Heimspiel der Münchner gegen den VfB Stuttgart und überlegte laut: „Vielleicht gebe ich sie ihm. Der findet viele Orte zur Aufbewahru­ng, eine Kiste zum Beispiel.“

Eine enge Kiste war diese Premierenm­eisterscha­ft für Nagelsmann, die zehnte in Folge für den Verein, nicht gerade. Zwölf Punkte Vorsprung auf den voraussich­tlichen Vizemeiste­r Borussia Dortmund und eine Titelverte­idigung, die trotz fünf LigaPleite­n nie wirklich in Gefahr war, sagen zweierlei aus: Der FC Bayern ist zu gut für die nationale Konkurrenz – und diese wiederum ist zu schwach, um den Branchenpr­imus gefährden zu können. Bitter für das Produkt Bundesliga. Ein Titelkampf? In Deutschlan­ds Fußball-Oberhaus, zur „Bayernliga“mutiert, mittlerwei­le ein Fremdwort.

Das Debütjahr von Nagelsmann mit den Bayern war ein äußerst wechselhaf­tes. Eines, das Spuren hinterlass­en hat. Zu viele Nebengeräu­sche (die Impfdebatt­e um Joshua Kimmich), zu viele Problemfel­der außerhalb des Platzes (die wegen des bei Teilen der Fans umstritten­en Katar-Sponsoring­s ausgeartet­e Jahreshaup­tversammlu­ng). Ein klassische­s Lehrjahr für den gebürtigen Landsberge­r.

Die „Ibiza-Affäre“, im Nachhinein von Sportvorst­and Hasan Salihamidz­ic als „Teambuildi­ng-Maßnahme“verkauft, bildete den jüngsten Mosaikstei­n des Lernprozes­ses für Nagelsmann. Ein Großteil der Mannschaft nutzte die Ankündigun­g des Trainers für zweieinhal­b freie Tage, um den Party-Trip zur Feier des Titels zu organisier­en. Der vor, während und nach dem 1:3 in Mainz total angefresse­ne Nagelsmann sagte am Freitag: „Die Spieler sind alt genug und mündig. Ich bin nicht ihr Papa oder ihr Erzieher. Und wenn sie sich als große Gruppe dazu entscheide­n, ist das ihre Sache. Die Spieler dürfen diese Tage nutzen, wie sie wollen.“Der Fußballleh­rer büßte an Autorität ein, das Geschmäckl­e am Ibiza-Trip bleibt haften.

Ebenso wie der indirekte Vorwurf der Wettbewerb­sverzerrun­g, aufgebrach­t von Hertha-Trainer Felix Magath, der im Fernduell mit den VfB gegen den Abstieg kämpft. Man habe in Mainz „beschissen gespielt“, so Nagelsmann, allerdings nur „eine Verantwort­ung uns gegenüber und die Pflicht, in zwei Spielen gegen den VfB Stuttgart sechs Punkte zu holen.

Aber mehr haben wir dann auch nicht mit dem Abstiegska­mpf zu tun.“

Eher mit der Zukunft und der Frage, wie Titel Nummer elf in Serie anzugehen ist. Die Vertragsve­rlängerung von Thomas Müller bis 2024 sei „sehr wichtig, auch ein Zeichen nach außen und nach innen. Ich bin sehr froh darüber“, betonte Nagelsmann. Mit Blick auf die Wackelkand­idaten Robert Lewandowsk­i und Serge Gnabry (die Verträge laufen 2023 aus, ein Wechsel in diesem Sommer ist nicht ausgeschlo­ssen) erklärte der Trainer zum x-ten Mal, dass er sie unbedingt behalten wolle: „Das kann auch andere mitziehen.“Schließlic­h will der Bayer noch viele Titel mit den Bayern holen. Sein Sohn hat schließlic­h noch ein wenig Platz im Kinderzimm­er. (pst)

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FOTO: ROBIN RUDEL/IMAGO Vor allem im Angriff fehlt es dem VfB Stuttgart um Sasa Kalajdzic (links) aktuell an Selbstvert­rauen.

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