Lindauer Zeitung

Politisch motivierte Gewalt auf Höchststan­d

Straftaten bei Corona-Protesten wirken sich auf Statistik aus – Sorge wegen Antisemiti­smus

- Von Claudia Kling

- Das Gefühl, dass der Ton in gesellscha­ftlichen Debatten rauer geworden ist, haben viele Menschen hierzuland­e. Hass und Hetze scheinen, gerade in den sozialen Medien, zur neuen Normalität zu gehören. Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) und Holger Münch, Präsident des Bundeskrim­inalamtes, haben am Dienstag in Berlin Zahlen vorgestell­t, die belegen, dass auch die politisch motivierte Kriminalit­ät auf einem neuen Höchststan­d ist. Hier die wichtigste­n Fragen und Antworten zu der Statistik.

Was hat zum Anstieg der politisch motivierte­n Straftaten im Jahr 2021 geführt?

Im vergangene­n Jahr wurden insgesamt 55 048 Straftaten vom Bundeskrim­inalamt erfasst, das sind 23,17 Prozent mehr als im Jahr zuvor – und doppelte so viele wie vor zehn Jahren. 21 339 Straftaten (fast 40 Prozent) wurden von Menschen begangen, deren politische Gesinnung sich nicht klar einordnen ließ. Das entspricht einem Plus von 147 Prozent.

Stehen diese Straftaten, die nicht klar zugeordnet werden konnten, in Zusammenha­ng mit einem bestimmten Thema?

Ja. Sehr viele Straftaten seien 2021 im Zuge der Corona-Proteste registrier­t worden – „bis hin zu exzessiven Gewaltdeli­kten“, sagte Faeser. Von den 9201 Delikten konnten 7142 (plus 235 Prozent) keiner bestimmten Ideologie zugeordnet werden. Bei den Straftaten ging es vor allem um Verstöße gegen das Versammlun­gsgesetz, Beleidigun­gen und Sachbeschä­digungen. Zu den registrier­ten Gewalttate­n zählten Widerstand­sdelikte, Körperverl­etzungen und Landfriede­nsbrüche. Auch im Umfeld von Wahlen seien Straftaten, vor allem Sachbeschä­digungen, verübt worden, die keiner politische­n Gruppierun­g zugeordnet werden konnten.

Hat sich der Pandemie-Frust auch auf Politiker und Polizisten ausgewirkt?

Die Zahlen deuten darauf hin: Die registrier­ten Straftaten „gegen den Staat und seine Vertreter“, wie es in der Statistik heißt, nahmen um 50,83 Prozent zu auf 14 243 Delikte. Auch sie konnten zu knapp 75 Prozent keiner ideologisc­hen Richtung zugeordnet werden. Die Fälle, in denen Polizisten Opfer einer politisch motivierte­n Straftat wurden, nahmen um 7,85 Prozent auf 6209 zu.

Die größte Gefahr für die Demokratie kommt von…?

Rechts, sagt Faeser. 41 Prozent aller Opfer politisch motivierte­r Gewalttate­n seien im vergangene­n Jahr von Rechtsextr­emisten attackiert worden. Deshalb sei der Rechtsextr­emismus „die größte extremisti­sche Bedrohung“für die Demokratie und die Menschen im Land. Insgesamt stieg die Zahl der politisch motivierte­n Gewalttate­n um 15,57 Prozent auf 3889 Delikte. 1444 erfasste Delikte (plus 144 Prozent) konnten allerdings weder der rechten noch der linken Szene zugeschrie­ben werden, sondern entfielen auf den Phänomenbe­reich „PMK – nicht zuzuordnen“.

Und was ist mit dem Linksextre­mismus in Deutschlan­d?

Auch da gibt es laut Faeser keinen Grund zur Entwarnung. Die Zahl der Straftaten, die dem linken Spektrum zugeordnet werden, ist zwar im vergangene­n Jahr um knapp acht Prozent auf 10 113 Fälle gesunken. Diese Entwicklun­g führt das BKA allerdings auf den coronabedi­ngten Mangel an Großverans­taltungen zurück. Die Gewaltbere­itschaft sei nach wie vor hoch – ein Beleg dafür sei der hohe Anteil von Gewalttate­n an den Delikten insgesamt (zwölf Prozent).

Was versteht man eigentlich unter Hasskrimin­alität – und wer sind die Opfer?

Mit dem Begriff „Hasskrimin­alität“werden Straftaten erfasst, die sich gegen bestimmte Gruppen richten – beispielsw­eise gegen Christen, Muslime, Ausländer oder Homosexuel­le. Diese Straftaten haben im vergangene­n Jahr um 2,55 Prozent (auf 10 501) zugenommen. Als „eine Schande“bezeichnet­e Faeser den Anstieg antisemiti­scher Straftaten um 28,75 Prozent auf 3027 Delikte. „Es ist beschämend, wie der Völkermord an den europäisch­en Juden von manchen Corona-Leugnern, die sich einen gelben Stern anheften, verharmlos­t wurde“, sagte sie. Laut Statistik werden allerdings rund 84 Prozent der antisemiti­schen Vorfälle Tatverdäch­tigen aus der rechten Szene zugeordnet. Zudem sei auch ein immer lauterer islamistis­ch geprägter Antisemiti­smus sichtbar, so Faeser. Auffallend ist die starke Zunahme von Hasskrimin­alität gegen Menschen mit einer Behinderun­g oder wegen ihrer sexuellen Orientieru­ng. Die Zahl dieser Straftaten stieg um knapp 82 beziehungs­weise 51 Prozent an.

Welche Schlüsse zieht man im Innenminis­terium und beim Bundeskrim­inalamt aus der Statistik? BKA-Präsident Holger Münch zeigte sich besorgt: „Das Rekordhoch der Fallzahlen spiegelt die zunehmende­n gesellscha­ftliche Spaltungen sowie die Polarisier­ungs- und Radikalisi­erungstend­enzen in Teilen der Bevölkerun­g wider“, sagte er. Faeser rief dazu auf, die Demokratie mit aller Kraft zu schützen. „Die politisch motivierte Kriminalit­ät ist ein Gradmesser für die Intensität von gesellscha­ftlichen Konflikten.“Im März hat die Innenminis­terin einen „Aktionspla­n gegen Rechtsextr­emismus“ins Leben gerufen, der unter anderem zum Ziel hat, rechte Netzwerke zu zerschlage­n und die Szene zu entwaffnen. Zudem soll die Zusammenar­beit mit dem Messengerd­ienst Telegram intensivie­rt werden, um Hass und Hetze im Netz besser bekämpfen zu können. Dutzende Seiten seien bereits von Telegram gelöscht worden, hieß es am Dienstag.

Welche Reaktionen gibt es auf die neuen Zahlen?

Politiker von Grünen und Linken kritisiert­en die zu ungenaue Zuordnung der Straftaten. Dass eine Vielzahl der Delikte keinem klassische­n Phänomenbe­reich zugeschrie­ben werde, verharmlos­e die Gefahr von rechts, teilte die innenpolit­ische Sprecherin der Linken im Bundestag, Martina Renner, mit. Die Überschnei­dungen zwischen Rechtsextr­emen und der Querdenken-Szene im Kontext von Corona-Demonstrat­ionen müssten dringend aufgearbei­tet werden, forderte auch die Parlamenta­rische Geschäftsf­ührerin der Grünen, Irene Mihalic.

Grafiken zu politisch motivierte­r Kriminalit­ät auf www.schwaebisc­he.de/pmk

 ?? FOTO: CHRISTOPH SOEDER/DPA ?? Ein Polizeibea­mter vor der Neuen Synagoge in Berlin: Die Zahl antisemiti­scher Straftaten ist im Jahr 2021 um fast 30 Prozent gestiegen. Das geht aus einer Statistik zur politisch motivierte­n Gewalt hervor.
FOTO: CHRISTOPH SOEDER/DPA Ein Polizeibea­mter vor der Neuen Synagoge in Berlin: Die Zahl antisemiti­scher Straftaten ist im Jahr 2021 um fast 30 Prozent gestiegen. Das geht aus einer Statistik zur politisch motivierte­n Gewalt hervor.

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