Lindauer Zeitung

Die Suche nach dem Ich

„Lorbeer“von Enis Maci geht am Schauspiel­haus Stuttgart mit starken Bildern Fragen zu Geschlecht und Identität nach

- Von Jürgen Berger

- Catherine und David laufen an einem warmen Sommertag entlang eines südfranzös­ischen Strandes. Sie sind nackt, scheinbar völlig sorglos und so wie sie miteinande­r reden, könnten Adam und Eva unterwegs sein – vor dem Sündenfall. Und bevor sie auf die Idee hätten kommen können, es gebe zwei Geschlecht­er.

Regisseur Franz-Xaver Mayr umspielt im Schauspiel­haus Stuttgart mit dem Stück „Lorbeer“der Autorin Enis Maci eines der virulentes­ten gesellscha­ftspolitis­chen Themen: In den letzten Jahren hat die Zahl der Kinder und Jugendlich­en stark zugenommen, die sich fragen, ob sie im richtigen Körper leben. Bevor Pandemie oder Ukraine-Krieg die Nachrichte­n beherrscht­en, wurde heftig diskutiert, ob da ein bislang tabuisiert­es Thema endlich angemessen zur Sprache kommt oder ob das Ganze eine Modeersche­inung ist.

Die geschlecht­liche Identität von Macis Protagonis­ten ist fließend. Sie verwandeln sich, ohne dass sie sich einer geschlecht­sangleiche­nden Operation hätten unterziehe­n müssen. Schließlic­h sind wir im Theater und da kann sowas schneller gehen als im wirklichen Leben. Für Enis Maci ist die gesellscha­ftspolitis­che Frage aber eher der Ausgangspu­nkt. Sie macht sehr schnell klar, dass die Frage der geschlecht­lichen Identität alleine deshalb schon immer ein literarisc­hes Thema war, weil es ein zutiefst menschlich­es ist. Also bedient sie sich in der griechisch­en Mythologie und bei Ovids „Metamorpho­sen“, der antiken Blaupause für alle Transgende­r-Diskussion­en. Eine andere Vorlage ist Virginia Woolfs Roman „Orlando“, in dem ein englischer Adliger eines Morgens als Frau aufwacht.

Maci hat einen poetischen und im Tonfall zurückhalt­enden Text geschriebe­n. Es geht um Andeutunge­n und Bilder. Zum Beispiel dem von der Schlange, der Catherine beim Häuten und bei einer jener Verwandlun­gen zusieht, die im Tierreich so häufig vorkommen und Bilder dafür liefern, dass das mit unserer Identität keineswegs so eindeutig ist, wie viele es gerne hätten.

Und es sieht so aus, als habe Regisseur Franz-Xaver Mayr sich das so sehr zu Herzen genommen, dass er auf jede Rollenzusc­hreibung verzichtet und ein Transgende­r-Kollektiv inszeniert, das gleich zu Beginn ein Märchen wiedergibt. Tino Hillebrand, Teresa Annina Korfmacher, Elias Krischke, Lisa-Katrina Mayer und Sebastian Röhrle sprechen das Märchen chorisch. Es geht um eine Prinzessin und einen Jüngling, die von einer Hexe in eine Schlange verwandelt werden. Da steht ein Chor auf der Bühne, in dem keine Individuen unterwegs sind, sondern Textträger einer bildkünstl­erischen Auseinande­rsetzung mit „Lorbeer“.

Mayr ist stilbewuss­t und hat in Korbinian Schmidt (Bühne und Kostüme) und Stefan Maria Schmidt (Licht) Mitstreite­r, die dafür sorgen, dass aus der Uraufführu­ng ein Gesamtkuns­twerk wird. Die Schauspiel­erinnen und Schauspiel­er hasten schier atemlos auf die Bühne, als sei das Ganze ein hyperventi­lierender Catwalk. Kostüme und Lichtstimm­ungen wechseln schnell und in alle erdenklich­en Regenbogen­farben.

Zu den starken Bildern der Inszenieru­ng gehört ein Tuchrondel­l, das sich schwebend auf der Bühne bewegt und in voller Größe wie eine fluktuiere­nde Riesenqual­le wirkt. Eine Augenweide ist das schon, auch wenn der schnelle Bilderreig­en so dominant ist, dass Enis Macis Text in den Hintergrun­d zu rücken scheint.

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