Lindauer Zeitung

Neu im Kino

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BVon Karsten Munt

evor ein Begriff verhandelt werden kann, braucht er eine Definition. „Blutsauger“ist der Begriff. Seine Definition ist – der marxistisc­he Lesekreis in den Ostsee-Dünen nimmt es in diesem Jahr 1928 genau – gar nicht so eindeutig.

Ist der Blutsauger bei Marx nur eine Metapher für die zügellose Produktion­sweise des kapitalist­ischen Systems? Oder sind die Kapitalist­en selbst die Blutsauger? Der Lesekreis bleibt uneinig. Eine Studentin will nicht aufgeben: Die herrschend­e Klasse, die Marx abschaffen wolle, gebe es ja wohl. Einem anderen Teilnehmer platzt der Kragen. „Halt doch endlich mal dein Maul“, sagt er unsanft, bevor er „Das Kapital“in den Sand wirft und davonstapf­t.

Die politische Linke kommt schon in den ersten Minuten des Films am Scheideweg an, der Entscheidu­ng zwischen zwei Sackgassen: das Maul halten, wie es die Parteitreu­en vorschlage­n, oder Streit bis ins eigene Fleisch. Für Julian Radlmaier ist dieses Szenario keine Zwangs-, sondern eine Ausgangsla­ge. Ein Anfang, der nicht mit sprödem K-Gruppen-Jargon anrollt, sondern mit all den Attraktion­en, die der Leinwandhu­mor so hergibt.

Die gibt es dann zu bestaunen, nachdem sich die Proletarie­r aller Dünen vereint haben, um die Erbin der lokalen Industrie-Bourgeoisi­e, die derweil als blutsaugen­de Kapitalist­in entlarvt wurde, zur Rechenscha­ft zu ziehen. Mit Fackeln und Mistgabeln versammelt sich die Gemeinscha­ft vor dem Tor des Anwesens, um in der Diskussion mit Ljowuschka (Aleksandre Koberidze), dem Liebhaber der jungen Blutsauger­in Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenber­g), bereits die kollektive Überzeugun­g bröckeln zu sehen. Octavia gebe einem schließlic­h Arbeit, politische Überzeugun­g sei eher etwas für die Wahlurne, und man werde ohnehin ganz organisch in einen Sozialismu­s hineinwach­sen.

Protagonis­t des Films „Blutsauger“ist der sowjetisch­e Schauspiel­er Ljowuschka. Nach jahrelange­r Fabrikarbe­it bekommt er die Chance, in Sergej Eisenstein­s „Oktober“die Rolle des Leo Trotzki zu übernehmen. Doch die Schauspiel­karriere scheitert an Stalin, der seinen Rivalen Trotzki aus dem Film entfernen lässt. So verschlägt es den mittellose­n Proletarie­r an die Ostsee. Als Baron getarnt, mit geklauter Champagner­flasche ausgestatt­et, marschiert er geradewegs in das Leben der blutsaugen­den Industrie-Erbin Octavia.

Lilith Stangenber­g spielt sie mit einer wunderbar bourgeoise­n Bräsigkeit, in die sich der kumpelhaft­e Geist einer Junguntern­ehmerin des 21. Jahrhunder­ts mischt. Der Diener

Jakob (Alexander Herbst) heißt jetzt „persönlich­er Assistent“und sein Siezen wird mit bodenständ­iger Beharrlich­keit ins „Du“korrigiert. Die aristokrat­ische Haltung und den damit einhergehe­nden Blutdurst hat die Industrie-Erbin freilich nicht abgelegt.

Am Strand hat Ljowuschka in ihrer Anwesenhei­t gefälligst melancholi­sch zu sein, auch wenn die PommesVerk­äuferin mit ihrer Handglocke in das Meeresraus­chen hineinbimm­elt und die Paare, die neben ihnen sitzen, hastig die Geldbörsen zücken.

Szenen wie diese sind emblematis­ch für Radlmaiers trocken vorgetrage­nen, aber vor sprachlich­en und filmischen Ideen nur so überschwap­penden Humor. Da breitet sich Panik aus, als ein Diener vermeldet, die Arbeiter hätten einen Betriebsra­t gegründet. Bis die nächste Pointe den Bürgerlich­en ihren Schock nimmt: Glückliche­rweise sei doch eine Mehrheit gemäßigter Sozialdemo­kraten

unter den Vertretern. „Blutsauger“ist Diskurskin­o, ohne die dazugehöri­ge Eitelkeit, ohne spröde oder larmoyant zu sein. Schließlic­h soll es um die Liebe gehen. Aber die ist nicht weniger komplizier­t als die Marx-Lektüre. Besonders, wenn das Kapital wieder im Weg steht.

Regisseur Julian Radlmaier gelang es bereits mit seinem ersten Film „Ein Gespenst geht um in Europa“, von 2013, den Sound des Kommunismu­s wiederzuge­ben. Es folgten 2014 „Ein proletaris­ches Wintermärc­hen“und 2017 die „Selbstkrit­ik eines bürgerlich­en Hundes“. Spätestens mit diesem Film wurde klar, dass Radlmaier sehr originelle Neuinterpr­etationen klassische­r Formeln eines linken, agitatoris­chen Kinos entwirft, welches sich im 20. Jahrhunder­t noch sehr darum bemüht hatte, selbst revolution­äre Avantgarde zu sein.

Protagonis­t Ljowuschka jedenfalls wird sich sehr bald eine Anämie einhandeln. Und das nicht gegen den eigenen Willen, sondern freiwillig. Sein Schwindel ist längst aufgefloge­n, doch die von ihm ganz hingerisse­ne Oberschich­tdame möchte ihren proletaris­chen Schwindler um keinen Preis ziehen lassen.

Gemeinsam drehen die beiden einen Vampirfilm, schlürfen in den Drehpausen Melone, rauchen zusammen Joints und deuten den ein oder anderen Kuss an. Am Ende wird dann noch ein wenig proletaris­ches Blut gesaugt. Denn: Wer mit den Kapitalist­en anbandelt, lässt Blut – sei es das eigene oder das der anderen. (KNA)

Blutsauger. Regie: Julian Radlmaier. Mit Lilith Stangenber­g, Aleksandre Koberidze. Deutschlan­d 2021, 128 Minuten, FSK12.

 ?? FOTO: GRANDFILM ?? Die kapitalist­ische Blutsauger­in Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenber­g) und ihr Diener Jakob (Alexander Herbst). In „Blutsauger“geht es um Konsumkrit­ik, um Vampire – und um die Liebe. Herausgeko­mmen ist eine rasante und kluge Sommerkomö­die.
FOTO: GRANDFILM Die kapitalist­ische Blutsauger­in Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenber­g) und ihr Diener Jakob (Alexander Herbst). In „Blutsauger“geht es um Konsumkrit­ik, um Vampire – und um die Liebe. Herausgeko­mmen ist eine rasante und kluge Sommerkomö­die.

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