Der Widersprüchliche
Der weltberühmte Gestalter Otl Aicher aus Rotis im Allgäu wäre diesen Freitag 100 Jahre alt geworden. Mit seiner Arbeit prägte er das Bild der Bundesrepublik. Und war gleichzeitig ein Charakter voller Zwiespältigkeit.
- Gezackte Dächer und auf schwarzen Stelzen erbaut, idyllisch in einer Senke der Allgäuer Hügellandschaft gelegen, verborgen und doch markant und einzigartig. Die Atelierhäuser von Otl Aicher in Rotis bei Leutkirch gehören längst zum Mythos um den legendären Gestalter. Architekturliebhaber und Bewunderer Aichers pilgern gerne hierher, angelockt von der Aura des Ortes, von den Geschichten und Legenden. Zu den wahrheitsgemäßen darunter zählt jene um Gerd Bulthaup, Spross aus der Küchendynastie, den Aicher wie so viele andere auch zunächst schroff abblitzen ließ. Und ihn dann fragte, ob er überhaupt kochen könne. „Als ich verneinte, hat er mir aufgetragen, es zu lernen, ehe ich mich daranmache, die Küche zu verändern.“Also stellte sich Bulthaup an Herd und Kochtöpfe, worauf die beiden tatsächlich die Küche verändern sollten. Und einen Vorläufer der heutigen Kücheninsel erfanden, sie als Ort von Gemeinschaft und Kommunikation wiederbelebten und neu definierten.
In etwa auf eine Art, wie Otl Aicher auch mit dem akribisch durchdachten Erscheinungsbild der Olympischen Spiele 1972 in München neue Maßstäbe setzte und Designgeschichte schrieb. Ebenso wie er mit der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm, die er mit seiner Frau Inge Aicher-Scholl und dem Schweizer Max Bill gründete, eine „Demokratisierung durch Design“anstrebte. Darunter oder mit weniger ging es bei ihm eben nicht. Da wundert es kaum, dass sein ältester Sohn, der Architekt Florian Aicher, beim Besuch in Rotis sagt: „Der Name Aicher löst auch zwiespältige Gefühle aus.“
Am 13. Mai wäre Otto Aicher, genannt Otl, der mit 69 an den Folgen eines Verkehrsunfalls starb, 100 Jahre alt geworden. Nun erscheint eine Briefmarke, ein Buch, es gibt Fernsehbeiträge und Ausstellungen, „da kann ich nicht beiseitestehen“, sagt Florian Aicher, der zum Jahrestag eine Internetseite veröffentlicht, die das Erbe auf vielschichtige Weise pflegen soll. „Wir wollen kein monolithisches Bild meines Vaters zeichnen, wie es sonst gerne gemacht wird“, betont er. Sondern das Bild einer Person, die vital, widersprüchlich und ambivalent war. Die für jeden, der sich mit Gestaltung beschäftigt, in dieser Zwiespältigkeit aufregend sein kann. „Die sich aber nicht eignet fürs Heiligenbildchenmalen.“
Geboren wird Aicher in Ulm, wächst an der Grenze zu Bayern im Stadtteil Söflingen auf, sein Vater ist Installateur, der Haushalt katholisch geprägt. Früh entwickelt er eine Abneigung gegen den Nationalsozialismus, verweigert sich der Hitlerjugend. Statt „Mein Kampf“liest er
Nietzsche, dann Thomas von Aquin und Augustinus von Hippo. Der Handwerkersohn wird zum Intellektuellen, die christliche Philosophie ist ihm Heilmittel gegen das Gift der Nazis. Als 17-Jähriger freundet er sich mit seinem Klassenkameraden Werner Scholl an, lernt die Geschwister Inge, seine spätere Frau, sowie Hans und Sophie kennen, die mit den Eltern in einer Wohnung am Münsterplatz in Ulm leben. „Er war viel bei den Scholls“, so Aichers Schwester, dort sei für ihn „alles gut und recht und schön“gewesen.
Um dem Krieg zu entgehen, lässt er Ende 1940 einen Heizkörper auf seine Hand fallen, drei Finger bleiben steif. Trotzdem wird er von der Wehrmacht eingezogen. Schließlich an der oberen Mosel stationiert, desertiert er im März 1945 und versteckt sich bei der Familie Scholl, die sich auf einem Hof im Schwarzwald aufhält. Nach Kriegsende kehrt er zurück ins zerstörte Ulm. Schreibt sich zunächst an der Akademie der Künste in München ein mit dem Anliegen, Bildhauer zu werden. Doch dieser Ansatz erscheint ihm schnell als altbacken und überholt, als falsche Antwort auf Veränderungswillen und Aufbruchsstimmung. Er wendet sich daher der Grafik von Gebrauchsgütern zu, erkennt darin die Möglichkeiten, Ideen und Inhalte der Moderne zu vermitteln. Tut dies in der Tradition des Bauhauses, in klaren und schnörkellosen Linien und Formen. Mit dem Ziel, dem neuen Deutschland ein Gesicht zu geben.
„Aicher hat versucht, das Extrakt aus einer Information zu finden“, erklärt dazu im Telefonat Monika Maus, für einige Jahre seine Assistentin in Rotis. Er will aus der Überfülle eine klare Botschaft generieren, optisch und inhaltlich von jeglichem Ballast befreit. Eine Zeichensprache ohne Mode und ohne Zeitgeist. Und damit etwas vermitteln, das keine Erklärung benötigt. „Das ist die große Leistung als Gestalter.“Was damals allerdings nicht alle so sehen.
Als Aicher Gestaltungsbeauftragter für die Olympischen Spiele 1972 wird, protestieren die Kollegen aus der Branche. Kritisieren den Stil als monoton, auswechselbar und undifferenziert, verspotten die inzwischen geschlossene HfG als „Kloster zum rechten Winkel“.
Unbeirrt schaffen Aicher und sein Team für die Spiele jedoch eine Gestaltung ohne Protz und Pathos. In Hellblau und in Regenbogenfarben, ohne Rot und Gold in der Farbpalette. Leicht und fröhlich, wie sich der Gastgeber der Welt präsentieren will. International und für jeden verständlich mit seinen berühmten Piktogrammen und Postern. Aber auch penibel durchdekliniert, von den Parkscheinen über die Hostessenkleidung bis zu Hinweisschildern und Programmheften. Sogar der Müll sollte in das optische Raster passen.
„Er hatte ein strenges Ordnungsprinzip, da gab es kein Verrutschen“, sagt Florian Aicher. Ein technisches System, das wie ein Gerät funktioniert. „Wenn da ein Teilchen fehlt, ist Feierabend.“Oder wenn etwas Furchtbares passiert. Bei Olympia 1972 kommt es zum Terroranschlag auf die israelischen Sportler. Eine Katastrophe, die das Bild der fröhlichen Spiele zerstört. Und damit auch Aichers lupenreines Gestaltungsmuster brutal mit der Wirklichkeit konfrontiert.
An Aufträgen mangelt es in den Jahren danach aber nicht: ERCO Leuchten, FSB, Dresdner Bank, Bulthaup, Lufthansa, Braun, die Stadt Isny und viele mehr strebten nach einem öffentlichen Erscheinungsbild ohne den Mief der Vergangenheit.
Die eiserne Stringenz der Konzepte war dabei allerdings auch ein Spiegelbild des Urhebers. „Aicher war gradlinig und stur. Er hatte eine Meinung und davon ließ er sich nicht abbringen“, sagt Monika Maus. Sein Sohn formuliert es noch anders: „Es war ein strenges Regiment.“Das trotzdem regen Zulauf erfuhr.
„Mein Vater war ein Menschenfischer“, sagt Florian Aicher, der Kreative in seinen Bann zog. Der Sohn allerdings ist erst später nach Rotis gezogen, bewohnt jetzt, genauso wie die Brüder, eines der Gebäude. „Es ist besser, auf Distanz zu bleiben“, war seine Linie, auch aus der Erfahrung heraus. So erinnert er sich zwar an einen lebensfrohen, gleichzeitig aber distanzierten Vater, der nicht viel Zeit für seine Kinder hatte. Manchmal einhergehend mit einer väterlichen Strenge, „die sich Erziehende heutzutage nicht mehr denken können“. Es sind Erinnerungen an einen Mann voller Widersprüche.
Der zum Beispiel in seiner Schrift „Kritik am Auto“das Fahrzeug nüchtern, technisch und emotionslos betrachtet, aber gleichzeitig mit heißem Herzen seinen Alfa in privaten Rennen durch den Schwarzwald hetzt. Der am Wochenende mit Freunden trinkt, raucht und die Möglichkeiten einer Revolution diskutiert, um am Montag für genau diesen Staat die Arbeit zu verrichten. Ein, wie gerne behauptet, hochpolitischer Mensch sei der Vater ohnehin nicht gewesen. „Das gehört in die Rubrik Heiligenbildchen.“Brüche zeigten sich auch noch auf einem anderen Feld.
So entwickelte sich Aicher in jungen Jahren zu einem Fundamentalkatholiken, geprägt von den Schriften Augustinus’ wollte er die Geschwister Scholl missionieren, erfolgreich war er damit vor allem bei Inge. Zum Ideengeber des Widerstandskreises wurde er aber nicht, „auch wenn er nach dem Krieg diesen Eindruck erwecken wollte“, wie Robert Zoske, Pastor und Biograf der Geschwister Scholl, in einem aktuellen Beitrag auf www.zeitzeichen.net erklärt. In seinen Erinnerungen habe sich Aicher zum geistig-moralischen Mentor der Weißen Rose stilisiert, eine Rolle, die in einem Kontrast zur Wirklichkeit stehe, war er doch zu keinem Zeitpunkt in die Aktivitäten der Münchner Gruppe eingebunden. „Richtig ist, dass er tragisch in den Tod der Geschwister ,verflochten‘ war, weil er am Tag vor ihrer Verhaftung eine Warnung an sie nicht rechtzeitig weitergab“, so Zoske.
Insofern taugt Aicher tatsächlich nicht für „Heiligenbildchen“, auch der Pfarrer sieht in ihm einen zwiegespaltenen und rätselhaften Charakter: „Eigenartig war sein Verhältnis zu Emotionen: Voller Gefühl war er gegen Gefühlsmenschen, er wollte allein die göttliche Liebe gelten lassen und manipulierte doch Menschen und Erinnerungen; er glaubte innig, verstand sich aber nur als Denker.“
Für seine Bewunderer und geistigen Erben wird hingegen immer das Werk im Vordergrund stehen. „Was Aicher geschaffen hat, ist aktuell und modern. Diese Ruhe und Gelassenheit einer durchdachten Gestaltung findet man leider nur noch selten“, sagt Monika Maus. Auch Sohn Florian sieht einen bleibenden Wert, aber von historischer Art: „Er war der Designer der neuen Bundesrepublik, der Willy-Brandt-BRD. Er hat der BRD ein prägendes Bild gegeben. Das ist eine Leistung.“Für ein Zeitalter stilbildend, werde sein Werk in der Rückschau auch weiterleben. „Die BRD aber gibt es nicht mehr, die muss sich gerade auch überlegen, was sie sein will“, erklärt er. „Ich glaube deshalb nicht, dass wir heute mit seinen Methoden noch gestalten können oder sollten. Ich glaube, wir müssen heute andere Antworten finden.“Antworten, die ebenfalls einen globalen Anspruch bedienen, die aber womöglich weniger kühl und technisch ausfallen, die Vergangenheit und Lebenswirklichkeit bedenken und erschließen.
Für Otl Aicher selbst verlor die Gestaltung am Ende seines Lebens an Bedeutung, stattdessen kehrte er zu seinen einst verpönten Ursprüngen als Bildhauer zurück. In einer kleinen Gartenlaube, die er sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite in Rotis gebaut hatte, schuf er drei Büsten: ein Selbstporträt, eine Büste von Sophie Scholl und eine von Hans – genau in dieser Reihenfolge. Als er die Straße zu seinem Gartenrefugium einmal mit dem Rasenmäher überquerte, wurde er von einem Motorrad erfasst und erlag den Folgen des Unfalls.
Internet: www.otl-aicher.de Ausstellungen: Otl Aicher 100 Jahre 100 Plakate, HfG-Archiv Ulm, bis 08.1.23, Otl Aicher & Isny Allgäu, Kunstpark Isny, 21.5. bis 31.10.22