Im Schatten der Geschichte
Paddler Oskar Speck startet heute vor 90 Jahren in Ulm – Sieben Jahre später landet er in Australien
(dpa) - Nichts erinnert in Deutschland an Oskar Speck, keine Statue und keine Plakette. Es trägt auch keine Straße den Namen des Mannes, der vor 90 Jahren von Ulm aus eines der größten Abenteuer begann, die ein Mensch je erlebt hat. Am Ufer unweit des Münsters ließ er sein wackeliges Faltboot in die Donau gleiten und stach mit dem Paddel ins Wasser. Er fuhr mit seinem Kajak über Flüsse, durchquerte Seen und Meere, er wurde verprügelt, beschossen und ausgeraubt, er hungerte, litt, überlebte die Malaria und landete bei seiner Ankunft am anderen Ende der Welt sieben Jahre später als mutmaßlicher Spion im Gefangenenlager.
Es ist ein bis heute unerreichter, dennoch weitgehend unbekannter Rekord. Rund 90 Jahre nach Specks Start baut ein Buch dem zurückhaltenden Extrempaddler im Schatten der Geschichte zumindest ein literarisches Denkmal.
„Seine faszinierende Reise hat damals Wellen geschlagen, aber es war die falsche Zeit“, sagt Tobias Friedrich, Musiker und Autor des biografisch gefärbten Romans „Der Flussregenpfeifer“(C. Bertelsmann Verlag). „Seine Leistung ist sprichwörtlich untergegangen im Zweiten Weltkrieg.“Speck sei nach seiner Reise und Verhaftung in Australien als einer der Letzten aus dem Lager gekommen, habe sich danach zunächst in seiner neuen Heimat auf dem fernen Kontinent einrichten müssen und zu spät und zu schlecht vermarktet.
„Speck hat während seiner Reise von Tag zu Tag und von Woche zu Woche entschieden, einen echten Plan hatte er nicht“, sagt Friedrich. Keinen Plan? Ein Ziel hat der verschuldete Elektriker zumindest, als er am 13. Mai 1932 am Ulmer Ufer der Donau steht. Er will vor allem weg aus dem Deutschland der Weltwirtschaftskrise, dem Land, in dem er keine Arbeit mehr findet, weil sein Betrieb pleite ist. „Es war keine Hoffnung mehr in Deutschland“, schreibt er später in einem Bericht. Frustriert wie er ist, will Speck in den Kupferminen Zyperns einen Job finden.
Mit zehn Reichsmark in der Tasche und lediglich dem, was in dem kleinen, zerlegbaren Kajak der Pionier-Faltboot-Werft in Bad Tölz Platz fand, bricht er auf, mit Kompass, Karten,
Wasser, Kondensmilch, Sardinen und Fleisch in Dosen, ein wenig Kleidung und einer Kamera. Schon in Passau ist er blank und muss seinen Bruder in Hamburg anpumpen, danach geht es weiter über Österreich, Ungarn und Bulgarien, das Mittelmeer und die Türkei, stets möglichst nah an Ufer oder Küste, um sich orientieren zu können. Schwanken durfte er dabei nicht, denn Faltboote wie Specks Modell müssen wie Fahrräder ständig in Bewegung bleiben, um nicht zur Seite zu kippen. Für Speck ist das Paddeln außerdem überlebenswichtig, denn er setzt sich zwar jahrelang den Gefahren auf dem Wasser aus, den Wogen und Winden, aber schwimmen kann er nicht. „Gemessen an vernünftigen Standards war ich verrückt“, schreibt er in einem späteren Reisebericht.
Spätestens in Zypern fasst der Deutsche neue Pläne. „Je weiter ich kam, desto weiter wollte ich“, soll er mal gesagt haben. Nach Australien will Speck – und zurück. Sein Weg in die Geschichtsbücher führt zunächst nach Syrien, mit dem Bus zum Fluss Euphrat, auf dem eines Nachts von Unbekannten auf ihn geschossen wird. In Belutschistan bekommt Speck sein geklautes Boot erst zurück, nachdem er die korrupten Dorfpolizisten auf seine Seite bringt. Er hält Vorträge im damaligen Bombay, inszeniert sich in einer reißerischen Artikelserie mit dem Titel „Abenteuer in der Sunda-See“im „Berliner Lokal-Anzeiger“als Held und nimmt Gelegenheitsjobs an. Während seiner 50 000-KilometerRekordfahrt, die unter anderem an den Küsten von Myanmar und Indonesien entlangführt – erlebt er die Welt wie unter einer Glocke. Von den Umwälzungen in der Heimat erfährt Speck erst wenige Tage vor seiner Ankunft in Australien im September
1939. Zu spät, denn das Land befindet sich damals seit wenigen Wochen im Krieg mit Hitlers Deutschland. „Wir gratulieren Ihnen zu einer herausragenden Leistung, Herr Speck“, soll einer der Polizisten damals am Strand gesagt haben. „Ich bedaure nun, Sie darüber zu informieren, dass Sie unter Arrest stehen.“
Bis über das Kriegsende hinaus muss Oskar Speck in Internierungslagern ausharren. Er ist nach einem gescheiterten Ausbruchsversuch einer der Letzten, der nach dem Krieg freikommt. Innerhalb kurzer Zeit wird er ansässig, verdient Geld im Opalhandel und baut sich als australischer Staatsbürger ein Anwesen auf einer Klippe, von der aus er das Meer überschauen kann, auf dem er so lange und rastlos unterwegs gewesen ist. Nur einmal, 1970, kehrt er nach Deutschland zurück, 1993 stirbt er im Alter von 86 Jahren.
Für Sabina Escobar vom Australian National Maritime Museum in Sydney bleibt Speck der unglückliche Held: „Es ist traurig für Oskar, aber als er bereit war, seine Geschichte zu erzählen und der Welt Bilder seiner erstaunlichen Reise zu zeigen, hatte sich die Welt bereits weiter bewegt“, schreibt sie in einem Beitrag für ihr Museum, das den Nachlass Specks betreut. „So konnte er nie der Held werden, von dem er einst geträumt hatte.“
Irgendwann aber hat auch Speck seinen Frieden damit gemacht, ein unbekannter Abenteurer zu sein. „Ich bin zufrieden, Anerkennung oder keine Anerkennung.“Einer der schwersten Weltrekorde bleibe vollkommen unbekannt. „Aber der Krieg hat viele Millionen Schicksale mehr bewegt. Warum sollte ich da unzufrieden sein?“, schrieb er seiner Schwester Grete in einem seiner letzten Briefe.
Zumindest gekratzt wurde allerdings an seinem Rekord: Die Australierin Sandy Robson ist Specks längste Kanustrecke der Welt in weiten Teilen erfolgreich abgefahren, sie musste nur einige Ecken auslassen wegen Konflikten und Kriegen. Auch Robson ging damals in Ulm an den Start und erreichte im November 2016 nach 23 000 Kilometern Saibai Island, eine australische Insel nördlich des Kontinents. Ihre einfache Erklärung: „Ich bin eine leidenschaftliche Kajakfahrerin und ich mag lange Reisen.“