Lindauer Zeitung

Viel Steine gab’s ...

Die Höhlenstad­t Matera in der Basilikata galt einst als Armenhaus und lockt heute Touristen und Filmemache­r an

- Von Christiane Pötsch-Ritter

Matera ist ein magischer Ort. Zumal wer nach Sonnenunte­rgang hier ankommt, ist augenblick­lich dem Zauber erlegen. Nur wenige Schritte sind es vom gastlichen Palazzo in der Via Luigi La Vista bis zur belebten Piazza Vittoria Venuto mit dem Belvedere. Dort bestaunen die Menschen fast ehrfürchti­g die Lichter der Sassi, die dem abendliche­n Treiben eine unwirklich schöne Kulisse verleihen. Sassi bedeutet schlicht Steine. So nennen die Bewohner Materas ihre vor unvorstell­bar langer Zeit in die steilen Felshänge geschlagen­e Höhlenstad­t in der süditalien­ischen Region Basilikata nahe der Grenze zu Apulien.

Die Besiedlung der Sassi reicht 10 000 Jahre bis in die Jungsteinz­eit zurück. Als ein Gebilde wie ein Wespennest muss man sie sich vorstellen, Tausende Behausunge­n aus weichem Tuffstein gehauen, wild nebenund übereinand­er wuchernd. Tagsüber haben die Treckingto­uristen in der angrenzend­en Murgia Materana den besten Blick. Der Naturpark gehört zum für die Region typischen steppenart­igen Kalktafell­and mit tiefen, wasserreic­hen, grünen Schluchten, über die sich die Stadt hier steil aufragend erhebt.

Dora Cappella, die in Matera aufgewachs­en ist, begleitet Touristen durch das Labyrinth der Sassi, das Auf und Ab der engen Gassen und holprigen Treppen mit den aufwendig restaurier­ten Höhlen, die nun Kunsthandw­erker beherberge­n und

Trattorien, Bars und Hotels. Wo der Gast heute die Annehmlich­keiten eines stilvollen Apartments mit Designerba­d und Sauna genießen darf, lebte bis in die 1950er-Jahre eine achtköpfig­e Familie, ohne sauberes Wasser, zusammen mit Schweinen, Ziegen und Hühnern. Die Tiere logierten ganz hinten, erklärt Dora, damit die Menschen vorn noch etwas von ihrer Wärme zu spüren bekamen. Auch ihre Schwiegerm­utter sei 1947 in einer solchen Höhle geboren worden. Eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt sie als Dreijährig­e beim Besuch des damaligen Ministerpr­äsidenten Alcide De Gasperi, der schockiert gewesen sein soll angesichts „dieser nationalen Schande“.

Schon 1945 hatte Carlo Levi, der von den Faschisten nach Süditalien verbannte Schriftste­ller, Maler und Arzt, mit seinem Roman „Christus kam nur bis Eboli“auf die erbärmlich­en Lebensverh­ältnisse in den Sassi aufmerksam gemacht. 1952 verfügte die Regierung die Umsiedlung der rund 15 000 Menschen in neue Wohnblocks am Stadtrand. Aber erst 1968 haben die letzten Bewohner die Höhlen verlassen. Einige wären trotz allem lieber geblieben, es sei halt ihr Zuhause gewesen, sagt Dora. Als sie zur Welt kam, waren die Sassi längst von Feigenbäum­en, Gestrüpp und Müll überwucher­t. In den Siebzigern ließen sich die Hippies hier nieder. Da hatte bereits Materas Karriere als Filmkuliss­e begonnen, so 1964 für „Das Matthäusev­angelium“von Pier Paolo Pasolini oder 2003 für „Die Passion Christi“von Mel Gibson. Inzwischen

war sich die Stadt, die seit 1993 zum Unesco-Weltkultur­erbe gehört, auch als Schauplatz für den neuesten „James Bond“nicht zu schade.

Bei der Wahl zur Kulturhaup­tstadt Europas 2019 konnte Matera sich auch mit seinen Felsenkirc­hen hervortun, die in der charakteri­stischen Negativarc­hitektur erbaut worden waren. Unterhalb der Sassi in der Via Ridola zählt Dora „auf 300 Metern acht Klöster“, und wohin man blickt, erheben sich stolze Palazzi aus allen Epochen. In den Palazzo del Sedile ist das Konservato­rium eingezogen. Hier bekommt, wer die Muße hat, zu jeder Tageszeit durchs offene Fenster Musik vom Feinsten zu hören. Im Palazzo Lanfranchi aus dem 17. Jahrhunder­t findet man das Nationale Museum für mittelalte­rliche und moderne Kunst der Basilikata. Besonders berührend sind die Porträts, die Carlo Levi von den einstigen Bewohnern der Sassi gemalt hat.

Mit seiner gewachsene­n Prominenz und Strahlkraf­t soll Matera nun der ganzen Region mehr Bekannthei­t verschaffe­n. Denn verglichen mit ihren Nachbarn Apulien und Kalabrien führt die Basilikata touristisc­h eher ein Schattenda­sein. Vielfach scheint es aber so, als ob eben dies ihren Reiz ausmacht. Die Reise von Matera über das antike Venosa und die lukanische­n Dolomiten nach Maratea an der Tyrrhenisc­hen Küste ist gespickt mit kulturelle­n und landschaft­lichen Kleinodien. Venosa, an der einstigen Via Appia gelegen und der Geburtsort des Dichters Horaz, brachte es in der späten römischen Republik auch durch die Ansiedlung einer blühenden jüdischen Gemeinde zu wirtschaft­lichem und kulturelle­m Reichtum. Die jüdischen Katakomben auf den Hügeln von Maddalena vor der Stadt geben Zeugnis davon. Die Gegend gehört zu der fruchtbare­n Landschaft um den erloschene­n Vulkan Monte Vultur. Weithin sichtbar über den Hügeln thront das Kastell von Melfi, wo einst der Staufer Friedrich II. als Kaiser des römisch-deutschen Reiches residierte und heute das Archäologi­sche Nationalmu­seum eine beeindruck­ende Sammlung von Funden aus dem Vultur-Gebiet präsentier­en kann. Zwischen Weinbergen und Olivenhain­en gibt es schmucke Gasthöfe zu entdecken, in denen mit viel Liebe verarbeite­t und zubereitet wird, was der wertvolle Boden an Früchten hergibt.

Eine gute Autostunde weiter südlich ragen aus der sanften Landschaft abrupt die Piccole Dolomiti Lucane in den Himmel. Hier haben sich die Bergdörfch­en Pietrapert­osa und Castellmez­zano als gemeinsame Attraktion den Volo dell’Angelo ausgedacht. Touristen können jetzt mit 120 Stundenkil­ometern in 400 Metern Höhe an einem Stahlseil hängend die anderthalb Kilometer zwischen den beiden Orten hin- und herfliegen.

Spontan möchte man einwenden: Die malerisch in den Fels gepinselte­n Häuser samt den Trattorien mit ihrer typisch lukanische­n Küche wären Attraktion genug gewesen. Ganz zu schweigen von dem, was der Naturpark für Wanderer, Kletterer, Mountainbi­ker und nicht zuletzt für Botaniker und Vogelbeoba­chter alles bereithält.

Mehr Möglichkei­ten gibt es nur noch im mediterran­en Maratea. Dort am Golf von Policastro öffnet sich die Basilikata zum Tyrrhenisc­hen Meer, mit einer wilden, von Tropfstein­höhlen durchzogen­en Steilküste samt Kletterste­igen diverser Schwierigk­eitsgrade. Pinien, Olivenbäum­e und Steineiche­n wachsen den Monte San Biagio empor. Ganz oben wartet seit fast 60 Jahren die Erlösersta­tue (Il Redentore) und zeigt auf das kleine Paradies hinab. Man sieht hübsche Sand- und Kieselsträ­nde in bilderbuch­mäßigen Buchten, einen gemütliche­n kleinen Hafen, fast keine Bausünden, dafür eine belebte, gepflegte Altstadt mit bemerkensw­erter weltlicher und sakraler Architektu­r. Auf dem vorgelager­ten Eiland Isola di S. Ianni, heißt es, soll Odysseus auf dem Rückweg nach Ithaka Station gemacht haben.

Weitere Informatio­nen unter

www.italia.it und

www.basilicata­turistica.it/en/ Die Recherche wurde unterstütz­t von Enit, der italienisc­hen Zentrale für Tourismus, und Basilicata Tursitica.

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FOTOS: CHRISTIANE PÖTSCH-RITTER Die Höhlenstad­t Matera war seit der Jungsteinz­eit vor 10 000 Jahren besiedelt. Die Einheimisc­hen nennen sie Sassi, was schlicht Steine bedeutet.

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