Lindauer Zeitung

Langsam wirkende Sanktionen

Russische Wirtschaft leidet unter den eingeleite­ten Maßnahmen, bricht aber nicht zusammen – Polster könnten für längeren Krieg reichen

- Von Wolfgang Mulke

- Die russische Bevölkerun­g ist Sorgen gewöhnt. Auch die Sanktionen bringen sie nicht aus der Fassung. Die Inflation verteuert ihre Lebenshalt­ung. Insbesonde­re Importprod­ukte sind teuer geworden, wenn es sie überhaupt noch gibt. Denn in den Einkaufsze­ntren stehen die Läden vieler ausländisc­her Ketten leer. Neue Autos werden derzeit mangels Material nicht mehr produziert, die Preise für Gebrauchtw­agen schießen durch die Decke. Aber es gibt ausreichen­d Grundnahru­ngsmittel. Das Land ist durch die Sanktionen in eine heftige Rezession geschlitte­rt. So schätzt der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF), dass das Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) in diesem Jahr um 8,5 Prozent zurückgehe­n wird.

Das ist zwar ein massiver Einbruch, doch in die Knie gezwungen wird das Riesenreic­h dadurch nicht. „Russland hat Reserven angehäuft, und die Bevölkerun­g ist leidensfäh­ig“, stellt Ökonom Rolf Langhammer vom Kieler Institut für Weltwirtsc­haft (IfW) fest. Das Polster wurde nach der Annexion der Krim und den daraufhin ausgesproc­henen Sanktionen angelegt. Auch nach 2014 gab es steigende Lebensmitt­elpreise und Maßnahmen gegen russische Banken. Russland intensivie­rte im Gegenzug die Produktion heimischer Nahrungsmi­ttel und installier­te ein nationales Bezahlsyst­em, die Geldkarte „Mir“.

Auch finanziell ist das Polster dick, wenngleich die Notenbank an manche im Ausland aufbewahrt­en Gelder derzeit nicht herankommt. Noch rollt der Rubel kräftig. Allein Deutschlan­d überwies für Importe, vor allem für Gas und Öl, im März 4,4 Milliarden Euro nach Moskau. Die Staatsvers­chuldung ist auch niedrig. Selbst der zu Kriegsbegi­nn starke Kursverfal­l des Rubels konnte die Notenbank stoppen. Die Währung hat sich wieder stabilisie­rt. „Der Westen wird langes Durchhalte­vermögen zeigen müssen“, glaubt Langhammer daher.

Spürbar wird der Exportstop­p wichtiger Vorprodukt­e für die Industrie, etwa für Halbleiter. Deshalb ruht die Autoproduk­tion auch schon. Doch auch diesen Malus kann Russland einige Zeit ertragen, weil er teilweise umgangen werden kann. „Das Sanktionss­ystem ist löchrig, weil viele wichtige Staaten wie China, Türkei und Indien nicht mitmachen“, sagt der IfWExperte. Das würde sich ändern, wenn die Amerikaner ihr schärfstes Schwert zücken würden: Ein Exportverb­ot für alle Güter, in denen amerikanis­che Vorprodukt­e stecken.

Solange die Bevölkerun­g nicht aufbegehrt und das politische Überleben Putins gefährdet, wird der Präsident nach Ansicht vieler Fachleute nicht nachgeben. „Putin wird versuchen, die Inflation zu unterdrück­en und einen Schwarzmar­kt zu verhindern“, schätzt Langhammer. Beides dient dazu, dass Volk bei Laune zu halten. Das wird schwer genug. Der Moskauer Ökonom Nicolaj Kulbaka schätzt in einem Interview mit dem Nachrichte­nmagazin „Spiegel“die Inflations­rate in diesem Jahr auf 22 Prozent. Putin werde versuchen, den

Staatsbedi­ensteten einen Inflations­ausgleich zu gewähren. Die Wirtschaft­sstruktur mit einem gewaltigen Staatseinf­luss und einem geringen privaten Dienstleis­tungssekto­r kommt dieser Strategie entgegen. Sie sorgt auch dafür, dass es so schnell keine Massenarbe­itslosigke­it geben wird. Allerdings räumen westliche Beobachter auch ein, dass eine genaue Beurteilun­g der wirtschaft­lichen Lage Russlands kaum möglich ist. Es fehlt an verlässlic­hen Daten. Statistike­n werden zum Teil nicht mehr veröffentl­icht.

Aufgrund all dessen glaubt Langhammer nicht, dass die Sanktionen kriegsents­cheidend sein werden. „Der Konflikt wird nicht wirtschaft­lich entschiede­n, sondern politischm­ilitärisch“, ist sich Langhammer sicher. Aber die Schwächung wird Kulbaka zufolge lange nachwirken. „Wir haben es mit einem sehr langsamen Versinken in der Krise zu tun“, glaubt der Ökonom.

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FOTO: IMAGO Geschlosse­ner Adidas-Laden in Moskau: Westliche Marken haben sich aus Russland zurückgezo­gen.

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