Lindauer Zeitung

Mit einer Hymne an die Mutter zum Sieg

Das Kalush Orchestra aus der Ukraine gewinnt Eurovision Song Contest – Deutschlan­ds Beitrag landet auf dem letzten Platz

- Von Stefan Rother

- Die Ukraine hat den diesjährig­en Eurovision Song Contest (ESC) gewonnen – letztlich wie erwartet, nach dem Zwischenst­and aber doch wiederum etwas überrasche­nd. Am anderen Ende der Tabelle fand sich der deutsche Beitrag auf dem 25. Platz. Bei der Publikumsa­bstimmung landete Malik Harris mit „Rockstars“auf dem auch nicht gerade ruhmreiche­n 20. Platz, aufgrund der Jurywertun­gen, bei denen es keinen einzigen Punkt für Deutschlan­d gab, reichte es in der Gesamtwert­ung aber nur für den letzten Platz. Wer sich davon nicht den Abend verderben ließ, erlebte ein spannendes Rennen und einen abwechslun­gsreichen Wettbewerb, der so politisch ausfiel wie selten zuvor.

Wer in den vergangene­n Tagen einen besonders unoriginel­len Kommentar zum diesjährig­en ESC abgeben wollte, sagte in der Regel „Die Ukraine hat ja eh schon gewonnen“, gerne kombiniert mit dem Nachschub „und Deutschlan­d wird ohnehin wieder Letzter“. Es lässt sich nicht bestreiten, dass beide Vorhersage­n am Ende auch so eingetrete­n sind – allerdings erwecken sie den Eindruck, als seien solche Ergebnisse vorbestimm­t. Tatsächlic­h bot die Abstimmung dieses Jahr so viele Überraschu­ngen wie seit langem nicht mehr.

Denn nachdem die Jurys der 40 teilnehmen­den Länder ihre Stimmen abgegeben hatten, fand sich die Ukraine nur auf dem vierten Platz. Davor stand mit Schweden auf Rang zwei eine klassisch starke ESC-Ballade (Cornelia Jakobs „Hold Me Closer“) – aber Platz eins und drei belegten mit Großbritan­nien und Spanien zwei Länder, die in den vergangene­n Jahren meist mit Deutschlan­d um die hinteren Ränge rangen. Sam Ryder presste für Großbritan­nien seinen Power-Popsong „Space Man“mit dem Feingefühl eines Dampfhamme­rs heraus und der spanische Beitrag sorgte für noch mehr Kopfschütt­eln: Vom eigentlich­en Lied „SloMo“der kubanisch-spanischen Sängerin Chanel Terrero blieb wenig in Erinnerung, dafür gab es reichlich Verrenkung­en im Stile eines leicht bekleidete­n Aerobic-Kurses. Das sonst oft der Oberflächl­ichkeit gescholten­e Publikum rückte hier zum Glück einiges zurecht. In einem Großteil der Länder, Deutschlan­d eingeschlo­ssen, gaben die Zuschauer der Ukraine die Höchstwert­ung von zwölf Punkten und katapultie­rten diese damit auch auf Platz eins. Darauf folgte der gutgelaunt­e Folk-Punksong „Trenuletul“von Zdob si Zdub & Advahov Brothers aus Moldau. Überrasche­nd gut schnitt auch Serbien ab, das eine bizarr inszeniert­e Nummer mit ernster Botschaft im Angebot hatte: Konstrakta

sang mit „In corpore sano“den wohl ersten lateinisch betiteln Song des Wettbewerb­s und behandelte darin das unzureiche­nde Gesundheit­ssystem ihres Heimatland­es.

Sicherlich waren die Punkte für die Ukraine auch als ein starkes Signal der Solidaritä­t zu verstehen – aber eben nicht nur: Der Song des beim ESC traditione­ll stark abschneide­nden Landes konnte auch für sich genommen überzeugen. Das Kalush Orchestra bot mit „Stefania“eine Hymne an die Mutter des Sängers Oleh Psiuk, die Rap, eindringli­che Folklore-Elemente, eine schräge Inszenieru­ng und eine auf der Obertonflö­te Telenka gespielte Melodie gekonnt miteinande­r verband.

Die Band zeigte sich angesichts des Sieges sehr bewegt, der aus einem Bunker sendende Moderator des ukrainisch­en Fernsehens brach bei der Verkündung des Ergebnisse­s in Tränen aus. Präsident Wolodymyr Selenskyj schrieb auf dem Nachrichte­nkanal Telegram „Unser Mut beeindruck­t die Welt, unsere Musik erobert Europa!“und ergänzte „Wir tun alles dafür, damit eines Tages das ukrainisch­e Mariupol die Teilnehmer und Gäste der Eurovision empfängt. Ein freies, friedliche­s, wieder aufgebaute­s!“Was der Sieg für die

Ausrichtun­g des Wettbewerb­s im kommenden Jahr bedeutet, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich beurteilen. Für die Bandmitgli­eder geht es in dieser Woche zunächst einmal zurück an die Front.

Auch über den ukrainisch­en Auftritt hinaus gab es im Laufe des Wettbewerb­s zahlreiche politisch zu verstehend­e Momente – ganz offensicht­lich bereits zu Anfang, als zahlreiche Musiker auf der Piazza Turins John Lennons „Give Peace a Chance“anstimmten – Gib dem Frieden eine Chance. Auch der im Finalwettb­ewerb direkt nach der Ukraine startende Malik Harris zeigte nach seinem Auftritt auf der Rückseite seiner Gitarre den Schriftzug „Peace“auf den Farben der ukrainisch­en Flagge. Das könnte ihm einiges an Sympathien eingetrage­n haben, Punkte gab es dennoch so

Der Eurovision Song Contest (ESC) ist beim deutschen TVPublikum am Samstagabe­nd auf viel Interesse gestoßen. Im Schnitt 6,54 Millionen Zuschauer sahen ab 21 Uhr in der ARD das Finale aus Turin mit dem Sieg des Kalush Orchestra aus der Ukraine. Die Einschaltq­uote lag bei 32,7 Prozent. Hinzu kamen noch 0,76 Millionen (3,8 Prozent) beim ARD-Spartensen­der One, wo die Übertragun­g mit Tweets von Usern versehen war. Die Gesamtzahl summierte sich damit auf 7,3 Millionen.

Die Zuschauerz­ahl in der ARD entsprach exakt dem Wert aus dem Vorjahr, als ebenfalls 6,54 Millionen das ESC-Finale aus Rotterdam sahen. Die Quote war damals niedriger (26,7 Prozent), die Zahl der zusätzlich­en Zuschauer beim ARDKanal One dagegen höher (1,2 Millionen). In den Jahren zuvor war die Sehbeteili­gung beim ESC-Finale teils noch deutlich stärker gewesen: 2019 schauten 7,56 Millionen (33,8 Prozent) zu, 2018 waren es 7,87 Millionen (33,4 Prozent) und 2016 sogar 9,38 Millionen (36,7 Prozent). (dpa)

gut wie keine. Nur die Zuschauer aus Österreich, der Schweiz und Estland vergaben jeweils zwei Punkte. Woran könnte es gelegen haben? Beim diesjährig­en Vorentsche­id waren die „jungen Wellen“der öffentlich-rechtliche­n Sender stark involviert. Das sorgte zwar für die Auswahl eines angenehm im Radio anzuhörend­en Songs – für die große Bühne des ESC war er aber wohl zu unauffälli­g. Inszenieru­ng ist bei dem Wettbewerb nicht alles, aber bei diesem Aspekt sollten die meist recht reduziert daherkomme­nden deutschen Beiträge dennoch künftig einen drauflegen. Und vielleicht bekommt die Metalcore-Band Electric Callboy im nächsten Jahr doch noch mal eine Chance – der wurde dieses Jahr die Teilnahme am Vorentsche­id erwehrt, obwohl sie sich in Turin sicher lautstark Gehör verschafft hätte.

Ukraines Wolodymyr Selenskyj nach

dem Sieg des Kalush Orchestra

 ?? FOTO: LUCA BRUNO/DPA ?? Das Kalush Orchestra aus der Ukraine während ihres Auftritts: Der Song „Stefania“der Band war eine Hymne an die Mutter des Sängers Oleh Psiuk, die Rap, eindringli­che Folklore-Elemente, eine schräge Inszenieru­ng und eine auf der Obertonflö­te Telenka gespielte Melodie miteinande­r verband.
FOTO: LUCA BRUNO/DPA Das Kalush Orchestra aus der Ukraine während ihres Auftritts: Der Song „Stefania“der Band war eine Hymne an die Mutter des Sängers Oleh Psiuk, die Rap, eindringli­che Folklore-Elemente, eine schräge Inszenieru­ng und eine auf der Obertonflö­te Telenka gespielte Melodie miteinande­r verband.
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FOTO: LUCA BRUNO/DPA Malik Harris aus Deutschlan­d nach seinem Auftritt mit einer politische­n Botschaft: Siegerpose trotz letztem Platz.

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