Der zornige Jesus
Die Passionsspiele in Oberammergau haben begonnen – Die Botschaft ist aktuell wie selten zuvor
- Dieser Seufzer des ortsansässigen Dekans Thomas Gröner beim Eröffnungsgottesdienst kommt von Herzen: „Gott sei Dank!“Denn Oberammergau ohne die Passion, das geht nicht gut. Die 6000Seelen-Gemeinde fiel vor zwei Jahren in eine Schockstarre, als wegen der Pandemie abgesagt werden musste, was die Oberammergauer vor bald 400 Jahren geschworen hatten: Im Turnus von zehn Jahren wollten sie „ein Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus“aufführen – falls Gott sie von weiteren Pesttoten verschonen würde. Gott hat seinen Part erfüllt, die Oberammergauer bis auf die Jahre 1920 und 1940 auch. Die Dankbarkeit, dass nun mit zweijähriger Verspätung die Spiele aus dem Jahr 2020 nachgeholt werden können, ist groß. Obwohl die Leidensgeschichte Jesu per se kein Stimmungsaufheller ist, ertönt am sonnigen Samstag zur Premiere an jeder Ecke des Ortes entspanntes Lachen. Die Prominez aus Politik, Kultur, Klerus und Sport schlendert durch die Gassen und stellt sich der internationalen Presse vor dem Festspielhaus. Den Oberammergauern gefällt’s, denn der Ort lebt für und von der Passion.
Die Geschichte, die alle zehn Jahre auf der 1928 erbauten und inzwischen zu einer Tempelanlage umgebauten Bühne gezeigt wird, ist bekannt: Jesus aus Nazareth, der sich Sohn Gottes nennt und inzwischen viele Anhänger um sich geschart hat, zieht unter Jubel in Jerusalem ein. Sein Umgang mit Zöllnern, Prostituierten und Aussätzigen, den sozial Ausgestoßenen, stößt den Hohepriestern auf. Dass er geschäftstüchtige Händler aus dem Tempel vertreibt, ebenso. Die Priester sehen durch Jesus’ radikale Auslegung der Bibel Macht und Besitz gefährdet, sie verbünden sich mit dem Statthalter Pontius Pilatus, dem unliebsamen römischen Besatzer. Er soll den Aufmüpfigen zum Tod am Kreuz verurteilen, was der schließlich auch tut. Das letzte Abendmahl mit den Jüngern, der Verrat durch Judas, der Kreuzweg und Jesu Tod – all diese Stationen werden die Oberammergauer auch in diesem Jahr in 103 Aufführungen bis zum 2. Oktober nachspielen.
Doch keine Passion, wie die Oberammergauer sie nennen, gleicht der anderen. Schon gar nicht, wenn eine Urgewalt des Theaters wie Christian Stückl sie nun schon zum vierten Mal leitet. Diesmal wird das Geschehen dominiert von einem zornigen Jesus, bei der Premiere gespielt von Frederik Mayet, einem, der an der Welt verzweifelt, der seine Botschaft des Friedens und des Verzichts in die Welt hinausschreit. Keinen irgendwie gearteten Kompromiss wird dieser Jesus eingehen. Sein Aufruf zum absolutem Gewaltverzicht – „wer das Schwert erhebt, wird durch das Schwert sterben“– war schon vor 2000 Jahren nicht mehrheitsfähig und dürfte es nach aktueller Lage auch heute nicht sein.
Eine Sensation ist tatsächlich die Deutung der Rolle des Judas. Denn der als Verräter gebrandmarkte Jünger, erstmals und überzeugend gespielt vom muslimischen Cengiz Görür, ruft zum Kampf gegen die römischen Unterdrücker auf. Mit Judas, dem Rebell, der für seine Überzeugung zur Waffe greifen möchte, kommt die Passionsgeschichte im Heute an. Und was sagt die Kirche zu diesem Konflikt? „Waffen können nicht gesegnet werden. Aber wir können auch nicht zusehen, wenn die Macht des Stärkeren zu gewinnen droht. Wenn wir mit der einen oder anderen Option Schuld auf uns laden, müssen wir auf Gottes Vergebung vertrauen“, so der evangelische Landesbischof Heinrich BedfordStrohm, der zusammen mit Reinhard Kardinal Marx den Festgottesdienst am Samstagvormittag feierte. Womit klar wäre, dass es auch für den Landesbischof keine eindeutige Antwort gibt in Bezug auf Waffenlieferungen in die Ukraine.
Überhaupt stellt man sich im Laufe der gut fünfstündigen Spielzeit die Frage, wie dieser so schrecklich unbequeme Jesus heute in seiner Kirche ankommen würde. Wenn er die Händler des Tempels verweist und und von den Priestern verlangt, ihre Besitztümer den Armen zu schenken, ist die Verbindung schnell gezogen. Richtig ungemütlich wird es, wenn er nicht nur vom Klerus, sondern von allen den Verzicht auf persönlichen Besitz fordert. Und plötzlich scheinen die Bedenken des Hohepriesters Annas (mit durchdringender Stimme und unglaublicher Präsenz gespielt von Christian Stückls Vater Peter), der Recht und Ordnung durch einen Revoluzzer wie Jesus in Gefahr sieht, gar nicht mehr so abwegig. Und die Rufe „Kreuzigt ihn!“folgen einer grausamen Logik.
Ist der erste Teil des Spiels noch geprägt von theologischen und historischen Diskursen, die in ihrer Statik trotz der vielen Menschen auf der Bühne auch mal ermüden, steigert sich die Dramatik im zweiten Teil fulminant. Wenn Jesus am Kreuz „Eloi! Eloi! Lama Sabachtani?“(Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?) ruft, könnte man in den Reihen der 5000 Zuschauer eine Stecknadel fallen hören.
Die Oberammergauer zeigen sich allerdings nur kurz beeindruckt von dem Spektakel. Wenn über vier Monate lang fast jeden Abend gekreuzigt wird, gehört dieser Ausnahmezustand zum Dorfleben. Der Wirt des traditionellen Gasthofs Alte Post, Anton Preisinger, eben noch als zynischer Pilatus im Pferdesattel auf der Bühne, sitzt schon kurz nach Spielende als guter Gastgeber wieder bei seinen Gästen am Tisch.
Otto Huber, Inhaber einer Pension, der am Abend als Hohepriester eher mühsam am Stock auf die Bühne kam, um seine vier Worte „Gott sei uns gnädig“zu sprechen, erzählt am nächsten Morgen seinen Gästen von früheren Zeiten. Damals, als er 1970 rausgeflogen ist, weil er sich vor Kamerateams kritisch über die Passion geäußert hatte („Als Student gehört sich das doch!“). Oder als er 1990 und 2000 zweiter Spielleiter neben Christian Stückl war und mit ihm zusammen den Text neu bearbeitet hat. Jetzt sei er, nach zwei Schlaganfällen, ein sogenannter Herzklopfer, ein Alter, den man halt mitspielen und ein, zwei Sätze sagen lasse. Und das genieße er jedes Mal. „Es ist wie ein Klassentreffen.“So eng liegen Leben und Leiden beieinander.
Info und Tickets unter www.passionsspiele-oberammergau.de