Ihre Spur verliert sich am Schloss
Seit Jahren gibt es kein Lebenszeichen von einem chinesischen Ehepaar, das am Schloss Neuschwanstein verschwunden ist
- Wo sind die Chens? Auch bald sechs Jahre nach deren Verschwinden kennt niemand eine Antwort auf diese Frage. Weiterhin fehlt jede Spur vom chinesischen Ehepaar, das letztmals beim Schloss Neuschwanstein gesehen wurde.
Es ist der 2. Juli 2016. Als Sihong Chen und seine Frau Xiaoxia an diesem sonnigen Tag aus dem Reisebus in Hohenschwangau steigen, tragen sie Sandalen und leichte Jäckchen zur Jeans. Der damals 37-jährige Mann aus der Finanzbranche und seine zwei Jahre ältere Gattin gehören zu einer Gruppe von Chinesen, die auf einer Sightseeing-Tour durch Europa sind. Auch ein Abstecher zum weltbekannten Schloss steht auf dem Programm. Am 5. Juli soll es wieder zurück in die Heimat gehen. Doch es kommt anders. Augenzeugen berichten, wie sie sich von der Gruppe lösten und nicht mit ihren Mitreisenden den knapp halbstündigen Fußmarsch zum Schloss antraten. Dann verliert sich ihre Spur.
Seit über fünf Jahren fahndet Interpol nach den beiden Chinesen. Bislang erfolglos, sagt der Kemptener Polizeisprecher Holger Stabik. Auch Suchaktionen mit Tauchern, Hubschraubern und Wärmebildkameras blieben ohne Resultat. Es deute nichts auf ein Verbrechen oder einen Unfall hin, sagt Stabik.
Auch beim chinesischen Konsulat in München zucken sie nur mit den Achseln. Man könne nicht weiterhelfen, lautet die schmallippige Auskunft. Dass die Pässe des Paars dort verwahrt liegen sollen – daran kann man sich nicht erinnern. Fakt ist jedoch, die Chens trugen ihre Ausweise nicht bei sich. Sie hatten sie als Pfand beim Reiseveranstalter hinterlegt. So ist das üblich bei Chinesen. Manche sagen, weil sich das Regime in Peking damit gegen Dissidenten wappnen will, die den Europatrip zur Flucht nutzen könnten.
Als die Chens vor fast sechs Jahren in Hohenschwangau verschwanden, machte deshalb schnell ein Gerücht die Runde: Statt das Schloss zu besuchen sei das Ehepaar geflohen und abgetaucht. Matthias Günes mag daran nicht so recht glauben. Der Marketingmanager des Hotels Müller in Hohenschwangau kennt die Reisenden aus Fernost und ihre Mentalität wohl so gut wie nur wenige sonst. Kein Wunder, war das Hotel mit Restaurant und vor allem dessen DutyFree-Shops doch eine der ersten Anlaufstellen für Chinesen im Rahmen eines Schlossbesuchs. Günes sagt, es gebe unter den chinesischen Touristen zwei Gruppen: Eine sehr wohlhabende, die reise wie Europäer. Und die andere, zu denen er die Chens zählt, die sich nur für wenige Stunden an einem Ort aufhalte. „Da kommt es auf eine schnelle Abwicklung an“, sagt Günes. Deshalb – und nicht aus politischen Gründen – bewahre der Reiseleiter die Pässe für die Reisenden auf. Etwa um Check-ins im Hotel oder die Zollabwicklung bei DutyFree-Einkäufen zu beschleunigen.
Ohnehin sei es in China bislang den oberen fünf Prozent vorbehalten gewesen, eine Europareise zu machen. In der Regel handelt es sich um Profiteure des kommunistischen Systems, die auch recht viel Geld ausgeben – im Schnitt 350 Dollar pro Tag. Eine Flucht? Für Günes daher unwahrscheinlich.
Der 39-Jährige hält es eher für denkbar, dass die Chens in den nahe liegenden Bergen abgestürzt sind. Auch weil er die Gegend ums Schloss gut kennt, selbst dort häufiger unterwegs ist und weiß, dass die Situation schnell gefährlich werden kann. Zumal die Chens nur Sandalen trugen.
An den Suchaktionen war auch die Füssener Bergwacht beteiligt. Ob es denkbar wäre, dass die Chens verunglückt sind und nicht gefunden wurden? „Unglücke an Orten in den Bergen, die für Suchmannschaften nicht einsehbar sind, kommen immer wieder vor“, sagt Markus Albrecht, Sprecher der Füssener Bergretter. Er erinnert an einen Fall aus dem Jahr 2016, als seine Kollegen zur Bergung eines tödlich Verunglückten an den Tegelberg gerufen wurden. In der Gelben Wand, nicht weit von Schloss Neuschwanstein entfernt, machte die Bergwacht eine schaurige Entdeckung: „An einer sehr nahe gelegenen Stelle fanden wir einen skelettierten Leichnam eines Mannes, der zum damaligen Zeitpunkt anderthalb Jahre vermisst war“, sagt Albrecht. Ein Zufallsfund. Manche tauchen auch gar nicht mehr auf. So wie beim ältesten Vermisstenfall im Allgäu: Ein Bergwanderer gilt seit 1971 in den Oberstdorfer Bergen als vermisst.
Könnten die Chens also am Ende gar nicht mehr auftauchen? Es spricht sehr viel dafür – ob sie noch am Leben sind oder nicht. Polizeisprecher Stabik sagt, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien. Jedoch ermittle die Kripo nicht mehr aktiv, weil sich keine neuen Hinweise ergeben hätten. Was bleibt, ist eine Geschichte mit vielen Fragezeichen.