Lindauer Zeitung

Im Einsatz mit Nadel und Faden

4000 Mitwirkend­e schlüpfen bei Memminger Wallenstei­n-Woche in die Kostüme

- Von Brigitte Hefele-Beitlich

- Noch trägt eine Schneiderp­uppe das fast fertige rosa Kleid, mit dem eine Adlige in der historisch­en Wallenstei­nwoche in Memmingen Staat machen will. Schneiderm­eisterin Renate Nägele legt letzte Hand daran, heftet Goldborten und Perlen fest. Hinter ihr rattern 17 Nähmaschin­en, dampfen Bügeleisen und warten Waschkörbe voll naturfarbe­nem Baumwollst­off darauf, zu Hemden oder Unterröcke­n verarbeite­t zu werden. Was aussieht wie ein Profi-Betrieb, ist die ehrenamtli­che Nähstube für die Wallenstei­nwoche in Memmingen. Dort ist noch einiges zu tun, damit gut 4000 Männer, Frauen und Kinder vom 24. bis 31. Juli historisch getreu nachspiele­n können, wie im Jahr 1630 der Feldherr Wallenstei­n sein Quartier in der Stadt aufgeschla­gen hat.

Seit 1980 verwandelt eines der größten Historiens­piele Europas Memmingens Altstadt im Vier-Jahres-Rhythmus in ein Wallenstei­nlager (Programm siehe Infokasten ) – diesmal mit zwei Jahren Corona-Verzögerun­g. Deswegen lag auch in der Nähstube lange Zeit alles brach. Zwar hängen bereits etwa 5000 fertig genähte Kostüme im Fundus des Fischertag­svereins, der die historisch­e Woche veranstalt­et. Doch die wollen trotzdem geflickt, geändert oder auch mal ersetzt werden, wenn der Stoff nach 20 Jahren zerschliss­en ist.

Jeder und jede Mitwirkend­e hat ein eigenes, personalis­iertes Kostüm mit einer Stammkarte, auf der alle Teile vermerkt sind, die dazu gehören – zum Beispiel „Rock, Unterrock, Mieder, zwei Blusen, Haube“.

Aufbewahrt wird es im Fundus. Wenn jemand aufhört, bekommt ein Nachrücker oder eine Nachrücker­in die Kleidung. Dann wird sie entspreche­nd auf den Leib geschneide­rt. Bei unzähligen anderen Kostümen müssen nach vier (heuer sechs) Jahren Wallenstei­n-Pause Nähte herausgela­ssen oder Stoff eingesetzt werden. „Heuer bei besonders vielen wegen der Corona-Pfunde“, sagt Nägele und schmunzelt. Neu zu nähen hatten ihre 35 „Nähmädle“, wie ihre Helferinne­n im Verein heißen, diesmal einige Kinderkost­üme, hat sich das Wallenstei­nlager doch immer mehr zum Familienfe­st entwickelt. Auch zwei „Nähbuben“gehören inzwischen zum Team, das übers Jahr einmal in der Woche mit Nadel und Faden hantiert – seit dieser Woche ist die Nähstube bis Juli sogar an zwei Tagen in Betrieb.

„Die Nähmädle gehören zu unseren wichtigste­n ,Prunkstück­en’“, betont deswegen Michael Ruppert, der Vorsitzend­e des Fischertag­svereins. „Weil sie unsere gesamte Ausstattun­g herstellen und in Schuss halten.“Er weiß, dass sie heuer einen besonders fordernden Endspurt vor sich haben, da wegen Corona zwei Jahre lang vieles liegen bleiben musste. Das bereitet auch Renate Nägele manche schlaflose Nacht. Sie ist seit 1998 der Kopf der Mannschaft, kräftig unterstütz­t von Susanne Pfalzer. Nägele macht Dienstplän­e, bereitet die Arbeiten vor und leitet Neulinge an. Heuer ist auch eine aus der Ukraine geflüchtet­e Schneideri­n dabei, die bei einer Familie in Memmingen untergekom­men ist. Ihr gebe man natürlich keine Uniformen in die Hand, betont Nägele. Aber an Handwerker­kostümen arbeite sie gerade mit großer Freude – und ist dankbar für die Abwechslun­g, die sie in der Nähstube findet.

Daheim in ihrer Schneidere­i in Schwaighau­sen (Landkreis Unterallgä­u) stöbert Nägele viel in Bildbänden nach historisch­en Vorlagen, aus denen sie möglichst originalge­treue Schnittmus­ter herstellt. Denn seit ein paar Jahren stattet sie Hofstaat und Kaufleute mit neuen Gewändern aus. Bis etwa 2008 habe man die bei Kostümverl­eihern besorgt. Das habe aber fünfstelli­ge Summen verschlung­en und die Kleider seien historisch oft fragwürdig gewesen. Deswegen werden sie nun selbst geschneide­rt – aus Stoffen, die sie bei einem Spezialanb­ieter in Bayern bestellt, der auch die Metropolit­an Opera in New York beliefert. So wie der rosa Brokatstof­f für das Kleid, in das Nägele mindestens 50 Stunden Arbeit investiert. Da ist ihr Credo ebenso wie bei der einfachen Hose aus grobem Wollstoff: „Alles muss perfekt sein.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany