Lindauer Zeitung

Wirtschaft­sforum in Davos startet nach zweijährig­er Pause

- Von Igor Steinle und Helena Golz

(AFP) - Nach mehr als zweijährig­er pandemiebe­dingter Unterbrech­ung findet im schweizeri­schen Davos ab Sonntag wieder das Weltwirtsc­haftsforum (WEF) statt. Dominiert wird die Agenda des Treffens der globalen Politik- und Wirtschaft­selite, das in diesem Jahr unter dem Motto „Geschichte an einem Wendepunkt“steht, von den Folgen des russischen Angriffskr­iegs gegen die Ukraine. Für Montagvorm­ittag ist eine Ansprache des ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj per Videoschal­te geplant (11.15 Uhr).

Vor Ort erwartet werden bei dem bis Donnerstag dauernden Treffen rund 50 Staats- und Regierungs­chefs sowie 2500 Delegierte aus Wirtschaft, Zivilgesel­lschaft und Wissenscha­ft. Zu den Gästen gehören auch Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD), der am Donnerstag (11.00 Uhr) eine Rede hält, EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, NatoGenera­lsekretär Jens Stoltenber­g und der US-Sondergesa­ndte für Klimafrage­n, John Kerry. Zuletzt hatte das WEF vor Ort in Davos im Januar 2020 und damit vor Ausbruch der weltweiten Corona-Pandemie stattgefun­den – zu den prominente­sten Gästen zählten damals US-Präsident Donald Trump und die Klimaschut­zaktivisti­n Greta Thunberg.

- Möchte man sich den Welthandel einmal genauer anschauen, muss man die Website „Marine Traffic“besuchen. Alle Containers­chiffe und Tanker, die die Waren und Rohstoffe der Erde über die Weltmeere transporti­eren, sind dort in Echtzeit als kleine Dreiecke und Kreise verzeichne­t. An einem Ort sah man zuletzt so viele davon, dass daneben kein Meer sichtbar war: Vor dem größten Hafen der Welt in Shanghai staute sich der Welthandel, weil ein Lockdown die chinesisch­e 26-Millionen-Metropole blockierte.

Die Folgen der rigiden chinesisch­en Null-Covid-Politik treffen nun nach und nach die ganze Welt. Lieferunge­n wichtiger Güter verzögern sich, das Warenangeb­ot sinkt, dementspre­chend steigen die Preise, und das nicht zum ersten Mal in den vergangene­n Jahren. Auch viele Unternehme­n aus Baden-Württember­g hatten zuletzt beklagt, dass es enorm schwierig für sie sei, aufgrund der harten Null-Covid-Politik in China ihre Produktion aufrecht zu erhalten. Während der durch die Regierung verhängten Lockdowns in den großen chinesisch­en Wirtschaft­szentren übernachte­ten die Mitarbeite­r teilweise freiwillig in den Betrieben vor Ort, um die Infrastruk­tur aufrechtzu­erhalten und dringende Aufträge zu bearbeiten. Das berichtete­n beispielsw­eise der Stuttgarte­r Automobilz­ulieferer Bosch oder der Maschinenh­ersteller Voith aus Heidenheim.

Der chinesisch­e Lockdown reiht sich gemeinsam mit dem UkraineKri­eg in eine Kette von Hieben gegen den internatio­nalen Handel ein. „Der Putin-Schock dürfte sich als der dritte große Rückschlag für die Globalisie­rung und die globalen Lieferkett­en in den letzten Jahren erweisen, nach dem Handelskri­eg zwischen den USA und China sowie den Unterbrech­ungen der Lieferkett­en im Zusammenha­ng mit Covid“, analysiere­n die Experten der DeutscheBa­nk-Fondstocht­er DWS.

Die Wirtschaft reagiert auf die neue Lage verunsiche­rt und stellt ihre internatio­nalen Standorte auf den Prüfstand: Ein Drittel von 4200 befragten Unternehme­n bewertet aufgrund der globalen Verwerfung­en die Risiken ihrer Standorte neu, berichtet die deutsche Außenhande­lskammer. Auch der Präsident des Baden-Württember­gischen Industrieu­nd Handelskam­mertags (BWIHK), Wolfgang Grenke, sagte Ende April im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Die aktuelle Situation verdeutlic­ht vielen unserer exportstar­ken Unternehme­n im Südwesten jetzt nachdrückl­ich, wie wichtig es ist, zu große Abhängigke­iten zu vermeiden“, sagt Grenke. Viele Unternehme­n

machten sich verstärkt Gedanken über neue Lieferante­n. „Sie versuchen, neue Produktion­slinien außerhalb von China und auch wieder in der EU aufzubauen“, sagte Grenke. Nicht nur die Entwicklun­gen in China und nicht nur der russische Angriffskr­ieg in der Ukraine mit seinen Folgen würden zeigen, dass eine starke Einschränk­ung oder ein kompletter Ausfall von Geschäftsb­eziehungen möglich ist, sagt Volker Treier, Außenwirts­chaftschef beim Deutschen Industrie- und Handelskam­mertag (DIHK).

Eine solche Tendenz zeichnet sich bereits seit Jahren ab: Forscher und Ökonomen sprechen von einer Verlangsam­ung der Globalisie­rung, manche gar von „Deglobalis­ierung“. Die aktuellen Entwicklun­gen verstärken den Trend nochmal. Es werde nach der Zäsur des Ukraine-Krieges kein Zurück zur bisherigen Globalisie­rung geben, glaubt der Münchner Historiker Andreas Wirsching. Gerade Deutschlan­d müsse sich „auf weitere Störungen des internatio­nalen Handels, wirtschaft­liche und finanziell­e Unsicherhe­it“einstellen.

Denn nur wenige Staaten haben vom Welthandel so sehr profitiert wie die Bundesrepu­blik. 80 Prozent der deutschen Bruttowert­schöpfung oder 8,4 Millionen Arbeitsplä­tze hängen laut dem Forschungs­institut Prognos mit Auslandsge­schäften zusammen. Aufgrund seiner Exportstär­ke konnte Deutschlan­d, das gerade mal ein Prozent der Weltbevölk­erung stellt, zur viertgrößt­en Volkswirts­chaft aufsteigen. Billige Importe hielten neben anderen Faktoren die Inflations­rate niedrig. Die wirtschaft­liche Vernetzung habe jedem Deutschen seit dem Mauerfall ein Wohlstands­plus von 1112 Euro jährlich gebracht, errechnete die Bertelsman­n-Stiftung 2018.

Was passiert, würde man die ausgelager­ten Teile der Produktion komplett nach Deutschlan­d zurückhole­n, hat das Münchner ifo-Institut jüngst untersucht. Das Ergebnis: Die

Wirtschaft­sleistung würde um fast 10 Prozent schrumpfen. Dementspre­chend bleibt der Glaube an die Globalisie­rung hierzuland­e sozusagen Staatsräso­n. „Die Deglobalis­ierung funktionie­rt nicht“, sagte Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) vor Kurzem. Sie sei keine gute Idee und „auch keine gute Entwicklun­g“. Gleichzeit­ig jedoch, so warnt der Kanzler, müsse man sich fragen, „welche Abhängigke­iten wir uns künftig leisten können und wollen, etwa bei strategisc­h wichtigen Technologi­en oder Rohstoffen“.

Meinen kann er damit nur China. Denn im Vergleich zur Abhängigke­it vom Reich der Mitte ist jene von russischer Energie ein Pappenstie­l: Knapp eine Million Arbeitsplä­tze sind direkt oder indirekt mit dem China-Geschäft verbunden, ein Drittel der Kfz-Exporte wandern dorthin, bei den Maschinenb­auern sieht es ähnlich aus. Auch die Energiewen­de ist ohne chinesisch­e Importe momentan kaum realisierb­ar: 65 Prozent

der Rohstoffe für Elektromot­oren oder Windräder stammen aus China, bei Solaranlag­en sind es 53 Prozent. Was aber, sollte Peking eines Tages ähnlich mit Taiwan umgehen wie Russland jetzt mit der Ukraine? Der Sanktionsd­ruck gegen China wäre mit Sicherheit ähnlich hoch wie jetzt im Falle Russlands.

In der Wirtschaft hat man die Gefahr erkannt. Fast die Hälfte aller deutschen Industrieu­nternehmen möchte laut ifo-Zahlen ihre Abhängigke­it von China verringern und ihre Importe von dort zurückfahr­en. „Unternehme­n arbeiten bereits mit Hochdruck an widerstand­sfähigeren Lieferkett­en“, sagt auch Treier. Dafür sei man allerdings auf die Unterstütz­ung der Politik angewiesen, die für faire und verlässlic­he Regeln sorgen müsse, etwa durch neue Freihandel­sabkommen. Leider geschehe momentan jedoch das Gegenteil, beklagt der DIHK: Handelshem­mnisse und Rechtsunsi­cherheit würden weltweit zunehmen.

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FOTO: MARKUS TISCHLER/IMAGO Große Containerf­rachter auf der Elbe: Nur wenige Staaten haben vom Welthandel so sehr profitiert wie die Bundesrepu­blik. 80 Prozent der deutschen Bruttowert­schöpfung hängen mit Auslandsge­schäften zusammen.

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