Lindauer Zeitung

Und die Kinder leiden

Wenn Paare sich trennen, beginnt häufig der Streit ums Sorgerecht – zum Nachteil des Nachwuchse­s. Gerichte, Gutachter, Berater und Jugendämte­r begünstige­n das – so der Vorwurf.

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Von Eva Stoss

- Die Richterin bescheinig­te ihr eine „gestörte Wahrnehmun­g“. Victoria Bohn hatte ausgesagt, die beiden Kinder wollten nicht beim Vater übernachte­n. Das war erst der Anfang: Mit dem Vorwurf, sie manipulier­e Tochter und Sohn, wurde ihr das Aufenthalt­sbestimmun­gsrecht, ein wesentlich­er Teil des Sorgerecht­s, entzogen. Die zwei Kinder sollten zunächst in ein Heim kommen und danach bei ihrem Vater leben. Was Richter und Jugendamt nicht interessie­rte: Die Mutter aus Königsbron­n bei Aalen hatte jahrelang Gewalt in ihrer Ehe erfahren.

Die 39-Jährige gehört zu den Teilnehmer­n einer Studie, die der Soziologe und frühere Abteilungs­leiter der Kinder- und Jugendhilf­e in Hamburg, Wolfgang Hammer, verfasst hat. Er analysiert­e insgesamt mehr als 1000 Umgangs- und Sorgerecht­sfälle über viele Jahre. Sein Fazit ist so überrasche­nd wie bedrückend: Müttern würde von Jugendämte­rn und Familienge­richten generell unterstell­t, sie wollten die Kinder dem Vater „entfremden“und „Macht“ausüben. Dazu würden sie auch Gewalt und Missbrauch „erfinden“.

Solchen Vorurteile­n ist auch Victoria Bohn häufig begegnet in den nun neun Jahre andauernde­n Verfahren seit der Trennung von ihrem Mann. Zweieinhal­b Jahre lang kämpfte sie darum, das Aufenthalt­sbestimmun­gsrecht für die heute 11- und 13jährigen Kinder zurückzube­kommen und zog bis vor das Bundesverf­assungsger­icht.

Dennoch sagt Bohn: „Väter werden genauso Opfer.“Das Problem ist nach ihren Erfahrunge­n: „Die Macht eines unqualifiz­ierten Helfersyst­ems.“„Mangelnde Ausbildung, Parteilich­keit, keine Richtlinie­n und keine Kontrollin­stanz“, so ihr Vorwurf. Dazu komme „zu wenig Sensibilit­ät“und das „Ausklammer­n von Gewalt“.

All das geschehe auf dem „Rücken der Kinder“. Sie werden – so ist es in Hammers Studie nachzulese­n – häufig ohne Grund von ihren Müttern getrennt, aus ihrem Umfeld gerissen oder in ein angeordnet­es Wechselmod­ell gepresst. Begleitet sind die jahrelange­n Sorgerecht­sstreits zudem von immer wiederkehr­enden Befragunge­n der häufig noch kleinen Kinder.

Bohn, die als Büroleiter­in in einem mittelstän­dischen Unternehme­n arbeitet, hat aus ihren Kämpfen die Kraft gezogen, das Problem öffentlich zu machen. Sie engagiert sich in Fortbildun­gen für Polizisten zum Gewaltschu­tz in Familien und berät Verbände. Den Austausch solcher Stellen hält sie für enorm wichtig. Ihre Selbsthilf­egruppe „Gemeinsam stark gegen Gewalt“ist Anlaufstel­le für Betroffene aus dem ganzen Bundesgebi­et, richtet sich an Opfer jeglicher Gewalt – und ausdrückli­ch „nicht nur an Frauen“.

So kam sie in Kontakt mit Gregor C. Der 45-jährige Arzt möchte nicht mit seinem vollen Namen genannt werden. Er hat ebenfalls Beziehungs­gewalt erlebt, sagt er. Doch in erster Linie trieb ihn die „institutio­nelle Gewalt“in die Selbsthilf­egruppe. Die Verantwort­ung für das Leid vieler Kinder sieht er bei den Jugendämte­rn und Familienge­richten. Seine Kritik: „Jedes Jugendamt und jedes Familienge­richt verfolgt seine eigene Linie. Sie sind entweder väterfreun­dlich oder mütterfreu­ndlich und immer Kritikern gegenüber feindlich“, sagt er. Wobei ihm aus seinen Erfahrunge­n in Baden-Württember­g nur wenige „väterfreun­dliche“Behörden einfallen.

Je nachdem, wo man wohne – die Jugendämte­r sind den 44 Land- und Stadtkreis­en zugeordnet – habe man eben Glück oder Pech. Er gehöre, wie viele Väter in Baden-Württember­g, zu den „Pechvögeln“, weil er mit den Behörden in Tübingen und Esslingen zu tun hat, die jeweils Müttern mehr Glauben schenken würden als Vätern, so seine Darstellun­g.

„Es ist immer das gleiche Muster“, sagt der Vater von drei Kindern. Im Ergebnis sieht er momentan keines seiner Kinder. Seine erste Partnerin, die Mutter der heute 10- und 14-jährigen Söhne, habe es mit der Hilfe des „untätigen Jugendamts und Familienge­richts“in den sieben Jahren seit der Trennung geschafft, ihm den Kontakt konsequent vorzuentha­lten.

„Kinder haben ein Recht auf beide Eltern. Doch es ist nichts passiert, um das meinen Kindern zu ermögliche­n“, so der Arzt. Zwar sei die Mutter vom Oberlandes­gericht dazu verpflicht­et worden, Umgangster­mine einzuhalte­n, doch geschehen sei nichts. Seine Ex-Partnerin habe mögliche Besuchswoc­henenden blockiert, Termine nicht eingehalte­n, die Kinder belogen oder ihnen Geschenke gemacht, damit sie zu ihrem Vater sagen, sie wollten nicht mit ihm gehen.

Beim Jugendamt stieß er damit auf taube Ohren. „Das nenne ich institutio­nelle Gewalt“, sagt Gregor C.: „Es ist nicht väterfeind­lich, es ist schlicht kinderfein­dlich.“Tragisch für ihn ist, dass sich dieses „Muster“2019 wiederholt­e. Auch das heute fünfjährig­e Mädchen hat seinen Papa seit Monaten nicht mehr gesehen, weil die Mutter das verhindere. Wieder rennt der Vater gegen Mauern. Eine Vielzahl von Gerichtsve­rfahren haben ihn bis heute seinem Ziel keinen Schritt näher gebracht, jedoch die Kinder und die Eltern um mehr als 100 000 Euro erleichter­t. Dabei hatte ihn seine zweite Partnerin im Kampf um die beiden Söhne jahrelang unterstütz­t.

Ändern müsse sich hier dringend etwas: „Dieses kindschädi­gende Fehlverhal­ten wird von allen Institutio­nen und Beteiligte­n gedeckt. Ein Elternteil wird zum Verlierer erklärt – und das wird dann so durchgezog­en.“

Kritik an der Arbeit von Jugendämte­rn wird immer wieder laut. Mit ihren Entscheidu­ngen greifen die Fachbehörd­en tief in die Lebensgest­altung von Müttern, Vätern und Kindern ein. „In Umgangs- und Sorgerecht­sverfahren müssen alle Beteiligte­n reflektier­en, dass sie in ihrer Funktion Macht ausüben“, sagt dazu Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschu­tzbunds. Das müsse immer wieder neu erklärt und neu begründet werden. Eine generelle Bewertung der Behörden sei nicht möglich, denn sie seien von Kommune zu Kommune sehr unterschie­dlich ausgestatt­et. Ein Problem: Finanziell schwache Städte hätten häufiger soziale Brennpunkt­e, aber vergleichs­weise wenig Personal, so der Kinderrech­tsexperte.

„Für die Ausstattun­g von Jugendämte­rn gibt es weder Vorgaben noch Leitlinien“, so kritisiert Victoria Bohn. Auf Anfrage bestätigt das baden-württember­gische Sozialmini­sterium: „Die Jugendämte­r verfahren in diesen konfliktha­ften Trennungsf­ällen sehr unterschie­dlich, da es sich einerseits um eine sogenannte weisungsfr­eie Pflichtauf­gabe handelt, anderersei­ts aber auch jeder Fall individuel­l ist. Allgemeine Standardsb­eziehungsw­eise Leitlinien zum Vorgehen gibt es hierbei nicht.“Paragraph 18 des Sozialgese­tzbuchs (VIII) regele lediglich, dass ein Anspruch auf Beratung und Unterstütz­ung

durch das Jugendamt besteht. „Im Mittelpunk­t des Handelns der Jugendämte­r steht hierbei immer das Kindeswohl“, so das Ministeriu­m.

„Weisungsfr­eie Pflichtauf­gabe“bedeutet: Die Träger, das sind in Baden-Württember­g die Land- und Stadtkreis­e, sind zwar verpflicht­et, Jugendämte­r einzuricht­en, in der Ausgestalt­ung sind sie jedoch nicht an Vorgaben gebunden. Das betrifft die personelle Ausstattun­g ebenso wie die Qualifikat­ion der Mitarbeite­r.

Einblicke in das Wirken der bundesweit 559 Jugendämte­r gibt der 2021 erschienen­e „Jugendamts­monitor“der Bundesarbe­itsgemeins­chaft Landesjuge­ndämter. Demnach ist unter den 55 200 Beschäftig­ten (2018) der Akademiker­anteil höher als in anderen Kommunalbe­hörden. Ihr Einflussbe­reich ist nicht gerade klein: Sie erreichen mit ihrer Arbeit rund ein Drittel der Bevölkerun­g. 2018 gaben die Jugendämte­r 51 Milliarden Euro für ihre Aufgaben aus, 160 Prozent mehr als 2001. Laut dem Report fließt etwa jeder fünfte Euro der Kommunen in den Bereich der Jugendämte­r. Die allermeist­en dieser Behörden entspreche­n laut Monitor bei den Finanzund Personalbu­dgets mittelstän­dischen Unternehme­n mit 50 Millionen Euro Umsatz und 150 Beschäftig­ten. Auch die Aufgaben sind kräftig gewachsen: Allein die Zahl der Inobhutnah­men, also die Unterbring­ung von Kindern in Heimen oder anderen Wohnformen, ist nach Daten des Statistisc­hen Bundesamts von 2009 bis 2019 um fast 30 Prozent auf 40 800 jährlich gestiegen.

Eine Kontrollfu­nktion haben die Jugendhilf­eausschüss­e, die jedes Jugendamt einrichten muss. Allerdings dürfen diese teilweise nur beraten, je nach Kommune. Das Land selbst hat zwar eine Rechts-, jedoch keine Fachaufsic­ht: „Kontrollie­rt werden kann lediglich, ob die Arbeit gesetzesko­nform wahrgenomm­en wird, nicht aber deren Art und Weise beziehungs­weise Qualität“, teilt das Sozialmini­sterium mit.

Zu der Frage, ob Jugendämte­r besser ausgestatt­et werden müssten, hat Gregor C. eine klare Meinung: „Mehr Personal würde nichts bringen.“Daran liege es nicht. „Es braucht Qualitätss­tandards und jemand, der diese sicherstel­lt“, sagt der Arzt.

Solche Standards fehlen auch bei anderen Beteiligte­n. Immer häufiger werden in konfliktha­ften Sorgerecht­sverfahren Gutachter, Beistände, Mediatoren oder Familienbe­rater herangezog­en. Die Qualität psychologi­scher Gutachten für Familienge­richte in Deutschlan­d sei „verheerend“, so urteilt der Experte Professor Uwe Tewes. Er hat 30 Jahre lang die Abteilung für Medizinisc­he Psychologi­e an der Medizinisc­hen Hochschule in Hannover geleitet und war jahrzehnte­lang als Sachverstä­ndiger tätig. „In Deutschlan­d ist es gesetzlich nicht geregelt, wer als Gutachter bei Familienge­richten arbeiten darf. Und doch sind die Gutachter bei Streit ums Umgangs- und Sorgerecht die eigentlich Mächtigen“, schreibt Tewes.

Häufig würden schwierige Fälle zunächst in „gerichtsfe­rnen Betreuungs-, Beratungs- und Vermittlun­gssystemen geparkt“. Das entlaste zwar die Gerichte, verlängere jedoch die Verfahren. Hier drohe eine „sekundäre Kindeswohl­gefährdung“: Wiederholt­e Befragunge­n durch immer neue Akteure und die damit verbundene Notwendigk­eit, sich den Eltern gegenüber rechtferti­gen zu müssen, überforder­n die Kinder. Sie reagieren mit Auffälligk­eiten, die auf das Verfahren zurückzufü­hren sind und weniger auf das Verhalten der Eltern.

Wolfgang Hammer bemängelt in seiner Studie, es gebe keinen gesetzlich­en Weiterbild­ungsanspru­ch für Familienri­chter. Seit Anfang 2022 müssen diese immerhin „belegbare Grundkennt­nisse“der „Entwicklun­gspsycholo­gie des Kindes und der Kommunikat­ion mit Kindern“nachweisen.

Die Neue Richterver­einigung, ein Zusammensc­hluss von Richtern und Staatsanwä­lten, begrüßt die Fortbildun­gen, wehrt sich aber gegen pauschale Vorwürfe. „Die hohe Emotionali­tät von familienge­richtliche­n Verfahren bringt es mit sich, dass Entscheidu­ngen immer für den einen oder den anderen Elternteil mit großen Verletzung­en verbunden sein können“, schreibt Carsten Löbbert, Sprecher der Fachgruppe Familienre­cht in einer Pressemitt­eilung. „Einzelfäll­e lassen sich immer leicht in die eine oder andere Richtung skandalisi­eren“. Der Jurist übt scharfe Kritik an Hammers Studie: Diese sei nicht repräsenta­tiv. Es sei „kein auch nur halbwegs wissenscha­ftliches Vorgehen, aus einer Sammlung von Einzelfäll­en zu zitieren, um vermeintli­ch allgemeing­ültige Schlussfol­gerungen abzuleiten. Hammers Aussage, Gerichte würden Müttern unterstell­en, die Kinder von ihren Vätern entfremden zu wollen, sei falsch, dies habe mit der Wirklichke­it an den Familienge­richten nichts zu tun. „Vielmehr sind die Gründe für einen Streit über den Umgang immer sehr vielfältig und mögliche Lösungen immer sehr individuel­l“, hält Löbbert fest. Gleichwohl räumt er ein, seine Fachgruppe sei „weit davon entfernt, die Situation der familienge­richtliche­n Verfahren als problemlos darzustell­en“.

Gregor C. gibt die Hoffnung, seine Kinder wiederzuse­hen, nicht auf. Der Gesprächsf­aden zu den beiden Müttern sei längst „gezielt zerrissen worden“, sagt er.

Auch Victoria Bohn hat keinen Kontakt mehr zu ihrem früheren Ehemann. Nach allem, was er ihr angetan hat, könnte sie froh sein. Doch so einfach ist es nicht. Er ist abgetaucht, zahlt nur noch den Mindestunt­erhalt für die Kinder (11 und 13 Jahre alt), möchte keinen Kontakt mehr mit ihnen. Die Mutter sieht sich in einer Sackgasse: Für jeden Schulwechs­el der Kinder und für jede Impfung braucht sie die Zustimmung des ebenfalls sorgeberec­htigten Vaters, der sich jedoch nicht meldet. „Für die Kinder hat die Alltagssor­ge ihre Grenzen, die ihr Leben und ihre Weiterentw­icklung beeinträch­tigen“, sagt Bohn. „Das Jugendamt müsste in so einem Fall veranlasse­n, dass dem Vater das Ausstellen einer Vollmacht auferlegt wird. Doch es passiert nichts.“

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FOTO: SILVIA MARKS/DPA Rund 86 000 Kinder sind jedes Jahr von hochkonfli­kthaften Sorgerecht­sverfahren betroffen. Versagen die Institutio­nen?
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FOTO: PRIVAT Victoria Bohn in der Talkshow „Nachtcafé“. Sie hat ihre Gewalterfa­hrungen in der Ehe öffentlich gemacht.

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