Eingriffe durchs Schlüsselloch erleichtern vieles
Fast alle Operationen im Bauch können inzwischen mit der minimalinvasiven Chirurgie gemacht werden
- Wenn Chirurgen aus beruflichen Gründen durchs „Schlüsselloch“schauen, hat das einen gewichtigen Grund: eine minimalinvasive Chirurgie (MIC) steht an. Für diese Operation werden spezielle Kamera- und Instrumentensysteme über kleinste Löcher („Schlüssellöcher“) beispielsweise im Bauchraum platziert, die Arbeit des Chirurgen wird mithilfe einer Stabkamera mit vier- bis fünffacher Vergrößerung auf einen Bildschirm projiziert.
Professor Beat Müller, Leiter der Sektion Minimalinvasive und Roboter-assistierte Chirurgie an der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg, kennt die Vorteile der MIC. „Die Patienten haben weniger Schmerzen, erholen sich oft schneller und können so früher nach Hause. Zudem entstehen Wundinfektionen und Narbenbrüche seltener.“
Fast alle bauchchirurgischen Operationen könnten heutzutage mit dieser Technik gemacht werden. Allerdings gibt es nach den Worten des Experten auch Grenzen für die MIC: Transplantationen wie die einer Leber beispielsweise seien für diese Operationsmethode zu aufwendig, das zu transplantierende Organ könne unter Umständen nicht schnell genug eingesetzt werden, „auch wenn ein komplexer Tumor bereits mehrere Organe involviert, empfiehlt sich eine ,offene’, also die klassische Operation, weil der Chirurg dabei die Grenzen des Tumors abtasten können muss“, sagt der 51-Jährige. Zudem sei bisweilen das Gewebe, das in solchen Fällen entfernt werden müsse, zu groß, was wiederum für eine offene OP spreche.
Seit dem ersten MIC-Eingriff im Jahr 1981, als Professor Karl Semm einen Blinddarm entfernte, hat sich diese Technik, die zuvor für die Diagnostik
eingesetzt wurde, stetig weiterentwickelt. Gallenblasenentfernung – bei der Frau auch durch die Scheide, also ohne zusätzlichen Schnitt, Blinddarm-, Leistenbruch-, Nebennieren-, Nebenschilddrüsen-, Dickdarm- und beispielsweise Milzoperation – die Liste der Eingriffe, für die sich die MIC eignet, ist lang. Steht beispielsweise eine Bauch-OP an, erhält der Patient eine Vollnarkose. „Wir schieben dann eine VerresNadel, also eine Hohlnadel mit durch ein stumpfes Inlay geschützter Spitze, in den Bauchraum ein. Dann bläst man ihn mit Kohlendioxid auf“, erklärt Müller, der im Team mit zwei Assistenten und Assistentinnen und einer OP-Schwester beziehungsweise einem OP-Pfleger operiert. „Anschließend werden Trokare, also Röhrchen, die vorne eine stumpfe Spitze haben, unter Sichtkontrolle mit einem Endoskop in den Bauchraum eingeführt.“Pro OP sind es in der Regel vier Röhrchen, es können aber auch je nach Eingriff mehr sein. Die fünf Millimeter dicken Stahlstäbchen zum Operieren, die durch die Röhrchen eingeführt werden, sind 40 bis 60 Zentimeter lang. Eine
Blinddarmoperation dauert mit dieser Methode rund eine halbe Stunde, für eine Speiseröhrenentfernung mit Rekonstruktion müssen dagegen sechs bis acht Stunden angesetzt werden. „Steht die Bergung eines größeren Organs an, kann es sein, dass wir einen Schnitt an einer nicht gut sichtbaren Stelle setzen, zum Beispiel einen Kaiserschnitt tief im Unterbauch“, erklärt der Spezialist. Standardinstrumente wie Klemmen werden nach Gebrauch sterilisiert und wieder eingesetzt, spezielle Instrumente wie Scheren meist nur einmal verwendet.
„Wichtig ist es, Chirurgen schon früh in dieser anspruchsvollen, nicht intuitiven Technik auszubilden, um beispielsweise die Gefährdung von Nachbarorganen durch das eingeschränkte Gesichtsfeld, die fehlende Haptik – Sie fühlen das Gewebe nicht – und thermische Effekte durch Koagulationsinstrumente zu minimieren, die wir für die Blutstillung brauchen“, weiß der Experte aus Erfahrung. Gallenblasen- und Blinddarmentfernung seien mittlerweile Standard für die MIC, die an allen Kliniken angeboten werden, wie auch die Operation von Leisten- und Narbenbrüchen zu den einfacheren und häufigeren Eingriffen gehöre. „Empfiehlt Ihnen als Patient ein Chirurg dafür grundsätzlich eine offene Operation, müssen Sie stutzig werden“, empfiehlt Müller. Auch die Adipositas-Chirurgie oder beispielsweise die Antirefluxchirurgie bei chronischem Sodbrennen werde heutzutage fast zu 100 Prozent minimalinvasiv gemacht.
Bei sehr komplexen Operationen wie einer Speiseröhren-, Bauchspeicheldrüsenoder Mastdarmentfernung hingegen rät der Experte, diese nur in Häusern machen zu lassen, „die über eine entsprechende Expertise verfügen“. Hausärzte oder die überweisenden Fachärzte könnten in der Regel entsprechende Häuser empfehlen. Im Fall von selteneren Erkrankungen helfe bei der Suche auch das Internet – dort könne man die Diagnose eingeben und schauen, wer was wie häufig mit welchem Erfolg mache. „Ist man ganz unsicher, kann man sich auch in unterschiedlichen Häusern vorstellen und die jeweiligen Meinungen einholen oder nach der Häufigkeit der durchgeführten Operationen oder Schlüsselkomplikationen wie zum Beispiel Nahtundichtigkeit bei Darmoperationen fragen“, sagt Professor Müller. Auch Selbsthilfegruppen oder entsprechende Verbände seien gute Ratgeber.
Lässt sich durch die Technik Personal einsparen? „Das ist ein zweischneidiges Schwert“, meint der Experte. „Man kann durch die Laparoskopie Personal einsparen, aber empfehlenswert ist das in meinen Augen nicht – aus Ausbildungsgründen und auch im Hinblick auf Notfallsituationen, in der Sie auf einen offenen Eingriff umsteigen müssen und Ihnen plötzlich zwei zusätzliche Hände fehlen.“
Zukünftig, sagt Professor Müller, werde die Robotik so in die MIC im Bereich Weichgewebechirurgie einziehen, dass sie die konventionelle Laparoskopie ablöse. Das bedeutet, dass nicht mehr der Chirurg mit seinen Händen, sondern der Roboter die Instrumente durch die Röhrchen führt. Nach wie vor mache der Operateur die Operation – allerdings seien damit Präzisionsbewegungen in 3-D-Sicht möglich. Müller: „Wie bei einer offenen OP kann der Chirurg dreidimensional sehen und die Instrumente intuitiv steuern. Das ist insbesondere bei einer sehr komplexen Operation von großem Vorteil.“Dass ein Roboter eine komplette OP in der Weichgewebechirurgie vornimmt, das kann sich Müller nicht vorstellen – „zumindest zu unseren Lebzeiten nicht“.
Die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie hat bundesweit fünf auf diesem Gebiet führende Einrichtungen als Exzellenzzentren anerkannt: das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Standort Lübeck, die Charité Berlin, die Universität Bonn, die Universität Leipzig sowie die Minimalinvasive Chirurgie Heidelberg. An der Universitätsklinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie Heidelberg werden inzwischen rund 40 Prozent aller Operationen minimalinvasiv durchgeführt. Das „TrialMagazin“hat den Markt für minimalinvasive Chirurgie (MIS) 2019 auf 1,14 Milliarden USDollar geschätzt. Bis 2027 soll er 2,27 Milliarden US-Dollar erreichen. Das entspricht im Zeitraum 2020 bis 2029 einer jährlichen Wachstumsrate von neun Prozent (hin).