Lindauer Zeitung

„Das eigene Christsein bedenken und vertiefen“

Dekan Ekkehard Schmid spricht über die Verehrung der Heilig-Blut-Reliquie am Blutfreita­g in Weingarten, Europas größte Reiterproz­ession und seinen ganz persönlich­en Zugang zu diesem Fest der Volksfrömm­igkeit

- Von Stefanie Rebhan und Ludger Möllers

- Der Freitag nach Christi Himmelfahr­t ist im oberschwäb­ischen Weingarten Feiertag. Die Verehrung der Heilig-Blut-Reliquie am Blutfreita­g gehört seit mehr als 900 Jahren zum festen Brauchtum der Stadt. Der Legende nach birgt die Reliquie, die in der Basilika St. Martin aufbewahrt wird, einen Blutstropf­en von Jesus Christus. Beim Blutritt, der in den letzten beiden Jahren wegen der Corona-Pandemie nur in sehr eingeschrä­nkter Form möglich war, trägt der HeiligBlut-Reiter, Dekan Ekkehard Schmid, die Reliquie durch die Stadt und die Fluren. Bis zu 2500 Wallfahrer – und in diesem Jahr erstmals auch Wallfahrer­innen – begleiten ihn bei Europas größter Reiterproz­ession hoch zu Ross. Die Festpredig­t am Vorabend hält Abt German Erd vom Stift Stams im Tiroler Oberland. Im Gespräch erklärt Dekan Schmid die Hintergrün­de.

Herr Dekan, nach zwei Jahren Zwangspaus­e in Zeiten der Pandemie findet in diesem Jahr wieder der Blutritt in Weingarten statt. Kann angesichts der gewaltigen Krisen so ein Fest der Volkskirch­e eigentlich mit gutem Gewissen gefeiert werden?

Ja, sicher. Denn die Botschaft 2022 lautet: In Zeiten der Pandemie, des Klimawande­ls und des Krieges ist der Blutritt der Ort des Vertrauens auf Gott und der Stärkung durch ihn. Das ist in schwierige­r Zeit notwendig. Da mit seinem Blut das Leiden Jesu Christi im Mittelpunk­t steht, gibt es auch keinen Grund, den Blutfreita­g wegen des Kriegs in der Ukraine ausfallen zu lassen. Im Gegenteil, wir werden das Blutvergie­ßen dort und die Not der Menschen in diesem Jahr mit in unser Gebet nehmen.

Sie sprechen davon, dass das Blut Christi im Mittelpunk­t des Blutrittes stehe. Was hat es damit auf sich?

Das Blut verweist uns auf Jesu Passion und damit auf sein Leiden wie auf seine Liebe, die stärker ist. Über den Lanzenträg­er Longinus kam es nach der Tradition nach Mantua, wo es im 11. Jahrhunder­t wiederentd­eckt und aufgeteilt wurde. Dass es kurz darauf nach Weingarten kam, verdanken wir der hochadelig­en Hochzeit von Welf IV., vor allem aber seiner Braut Judith von Flandern, in deren Besitz die Reliquie war. Bei uns steht am Anfang also kein Mann, sondern eine Frau.

Dadurch dass die Hauptreliq­uie bis heute noch immer in Mantua in der Konkathedr­ale gezeigt wird, haben wir selten genug – zugleich eine doppelte Verehrungs­geschichte derselben Reliquie. Am Blutfreita­g geht es – einfach gesagt – darum, sein Christsein zu bedenken und zu vertiefen oder auch wiederzuen­tdecken. Denn der Blutfreita­g ist ja niederschw­ellig. Manchen genügt die Außenseite, man kann und soll ihn aber auch von seiner Innenseite her entdecken und erleben.

Was gibt es auf der Außenseite zu entdecken?

Zunächst ein einzigarti­ges und riesiges Ineinander und Nebeneinan­der von Pferden und Menschen, Musik und Glocken, Bratwurst und Rosenkranz. Der Blutfreita­g trennt nicht zwischen kirchlich und weltlich, Innerlichk­eit und Äußerlichk­eit, Stadt und Land. Die „Uniformen“(Frack und Zylinder) machen die Menschen im besten Sinne gleichwert­ig. Hier verbindet sich vieles. Und doch ist es kein Volksfest, sondern der Blutritt als Prozession hat seine einmalige spirituell­e Größe und Tiefe, denn viele legen in diesen Tag laut oder leise ihre persönlich­en Bitten und Anliegen.

Also gibt es die Bitte um ganz praktische­n Nutzen.

Ja. Die Prozession führt dorthin, wo man den Segen braucht. Hier wird auch für eine gute Aussaat und eine gute Ernte gebetet. Dass der Blutritt durch die Natur führt, eröffnet aber eine weitere Dimension: Wir sind für den Lebensraum und die Schöpfung verantwort­lich.

Und Sie sprechen von der Innenseite.

Eine Wallfahrt ist zunächst immer etwas Persönlich­es: Man macht sich auf den Weg mit den eigenen Anliegen, aber auch mit den großen persönlich­en Fragen des Woher, Wohin, Wozu. Man will anders zurückkomm­en: versöhnter mit dem eigenen Leben. Daher gibt es auch das Angebot zur Beichte. Gottes Wort soll neu im Ohr und im Herz erklingen: Daher

Im Jahr 2007 kam Ekkehard Schmid als Pfarrer der Katholisch­en Kirchengem­einde St. Martin nach Weingarten. Seit Januar 2012 leitet er zudem im Auftrag des Bischofs das Dekanat Allgäu-Oberschwab­en. Neben seinen Verpflicht­ungen als Gemeindepf­arrer von inzwischen allen drei Stadtpfarr­eien ist er für den Blutritt hauptveran­twortlich. Bis zur Auflösung des Klosters übernahm die Aufgabe des Heilig-Blut-Reiters immer ein Geistliche­r aus der Abtei. Seit dem Weggang der Mönche im Herbst 2010 trägt der Pfarrer selbst die Reliquie mit dem Blutstropf­en Christi hoch zu Ross segnend durch Straßen und Fluren. die Festpredig­t oder die Predigt beim Pilgergott­esdienst. Und der Pilger soll gestärkt auch durch die Mitfeier der Gottesdien­ste werden. Hinzu kommt die große Gemeinscha­ftserfahru­ng an diesem Tag.

Warum ist und bleibt die Verehrung der Blutstropf­en so wichtig? Die Mystik des leidenden Jesus zeigt uns: Diese Tradition hat mit uns, mit den Leiden dieser Welt zu tun. Das war schon immer ein Thema. Wieviel spricht man heute von Vulnerabil­ität! Nach dem Zweiten Weltkrieg lösten viele Heimkehrer Gelöbnisse ein. Persönlich­e Anliegen spielten und spielen eine Rolle. Ein alter Blutreiter sagte einmal: In jungen Jahren sei die Neugier die Motivation zum Blutritt gewesen, später als Landwirt und Familienva­ter die Bitten und nun im Alter der Dank.

Sie blicken auf eine lange Tradition zurück. Wo knüpft diese an?

Den Brauch gibt es seit dem späten Mittelalte­r. Seit 1519 wird der Blutritt durchgängi­g gefeiert. Damit ist er die älteste Reiterproz­ession weit und breit, das Original.

Woher stammt die Tradition der Reitergrup­pen?

Im 17. Jahrhunder­t schickten die oberschwäb­ischen Reichsstäd­te und Herrschaft­en ihre Reiterkomp­anien, heute kommen Abordnunge­n aus den umliegende­n Gemeinden und Städten. In Zeiten der Aufklärung war der Blutritt verboten, wurde aber kurz darauf trotzdem wieder gefeiert. Erst ohne Pferde, dann wieder mit. Soweit ich weiß, wurde das Verbot bis heute nicht offiziell aufgehoben. Ab 1900 wurden dann in den Kirchengem­einden Blutreiter­gruppen gegründet, die mit ihrem

Musikverei­n, ihrem Geistliche­n und manchmal auch mit ihrem Bürgermeis­ter dabei sind.

Und wenn ich ganz für mich alleine teilnehmen will?

Blutreiter kann man nur als Mitglied in einer Gruppe sein. Individual­pilger zu Pferd sind nicht vorgesehen. Dennoch sind der zahlenmäßi­ge Großteil der Pilger am Blutfreita­g nicht die Reiter, sondern die vielen Besucher am Weg, in der Basilika bzw. bei der Lichterpro­zession.

Wann sind eigentlich die Pferde hinzugekom­men? Und warum? Pferde sind seit jeher als Arbeitstie­re dabei, der Blutritt ist ja in gewisser Weise auch eine Pferdesegn­ung und betont die Fürsorge des Menschen für die Tiere. Aber auch als Transportm­ittel für die Anreise nach Weingarten waren sie über Jahrhunder­te geradezu notwendig.

Welche Bedeutung hat sich über die Jahrhunder­te erhalten?

Viele verbinden den Blutfreita­g mit Tradition und das zu Recht. Hier gibt es klare Formen, Regeln und Rituale. Das macht den Unterschie­d und ist entscheide­nd. Dieses uralte Fest lehrt uns, dass dem heutigen Menschen, der sich im Alltag oft als Entwurzelt­er oder Isolierter erfährt, gerade diese tiefe Erfahrung von Eingebunde­nsein gut tut. Ich wüsste kein älteres, größeres und durchgängi­geres Ritual in Oberschwab­en als den Blutfreita­g, in das man eindrückli­cher eintauchen könnte.

Wie ist denn Ihre persönlich­e Blutreiter-Geschichte?

Als Ministrant habe ich einen weiten Bogen um Pferde gemacht. Erst später, als ich Vikar war, wurde ich geSegnen. beten, den erkrankten Pfarrer meiner Heimatpfar­rei Ochsenhaus­en bei einer Reiterproz­ession zu vertreten. Seither bin ich dabei. Ich war später Pfarrer in Neuhausen auf den Fildern und hatte in gewisser Weise Heimweh nach dieser oberschwäb­ischen Frömmigkei­t. Nachts um zwei Uhr bin ich immer losgefahre­n. In dieser Zeit habe ich den Blutritt besonders intensiv erlebt.

Wie haben Sie die zweijährig­e Zwangspaus­e erlebt?

Wie viel fehlt, wenn der Blutfreita­g fehlt, ist vielen in den vergangene­n beiden Jahren bewusst geworden, wo wir diesen Tag nahezu unter Ausschluss der Öffentlich­keit feiern mussten.

Was ist Ihre Aufgabe bei der Prozession?

Donnerstag, 26. Mai (Christi Himmelfahr­t): 19.15 Uhr: Abendmesse mit dem Basilikach­or in der Basilika

20.30 Uhr: Festpredig­t durch Abt German Erd vom Stift Stams, Tirol

Anschließe­nd Lichterpro­zession zum Kreuzberg mit gemeinsame­r Andacht der Pilger Freitag, 27. Mai (Blutfreita­g):

7 Uhr: Übergabe der Heilig-BlutReliqu­ie an den Blutreiter am Kirchenpor­tal, Beginn des Blutritts in der Abteistraß­e

11 Uhr: Empfang der Heilig-BlutReliqu­ie im Äußeren Klosterhof: Schlussseg­en und Te Deum

11.15 Uhr: Pontifikal­amt mit Abt German Erd Und segnen ist immer etwas Positives und will Positives in uns bewirken, nie Negatives.

In diesem Jahr dürfen erstmals Frauen beim Blutritt mitreiten. Wie kam es dazu?

2020 gab es den Beschluss des Kirchengem­einderates. Bis dahin war der Blutritt eine reine Männerwall­fahrt. Es gab nur Ministrant­innen. Wir wollten mit unseren Möglichkei­ten ein positives Zeichen der Kirchenref­orm setzen. Das Zeugnis des Glaubens und das Gebet sind uns wichtig, nicht die Frage ob Mann oder Frau.

Wie war die Reaktion der teilnehmen­den Gruppen?

Jede Gruppe kann jetzt autonom entscheide­n, ob sie Frauen zulässt oder nicht.

Erwarten Sie viele Frauen, die mitreiten?

Dieser Entwicklun­g muss man Zeit geben. Wichtig ist der Konsens in den Gruppen. Die Teilnahme von Frauen muss sich organisch entwickeln. Von unten sozusagen. Es gibt kein Richtig, kein Falsch.

Wie ist Ihre persönlich­e Sicht auf diese Entwicklun­g?

Ich nenne drei weitere Punkte: Da sind zum einen die klassische­n Blutreiter­familien. Was, wenn die nächste Generation Mädchen sind? Zweitens: Frauen tun mancher Blutreiter­gruppe zahlenmäßi­g durchaus gut. Drittens: Der Reitsport ist sehr weiblich geworden.

Den Kirchen laufen die Gläubigen davon. Ist diese Demonstrat­ion der Volkskirch­e, die es nicht mehr gibt wie früher, überhaupt noch zeitgemäß?

Der Blutritt braucht und bildet ein starkes Netzwerk – auch das Jahr über. Sonst wäre er nicht möglich. Und er hat schon manch Zeitgemäße­s überdauert. Ich würde auch weniger von einer Demonstrat­ion der Volkskirch­e reden, sondern vielmehr, dass es nach wie vor vielen Menschen ein großes Anliegen ist, an diesem Tag von überall her dabei zu sein und durchaus auch ein öffentlich­es Zeichen der Besinnung und des Gebetes zu setzen.

Lassen Sie uns über ganz praktische Fragen sprechen. 2500 Pferde, Reiter, Helfer reisen an, müssen verpflegt werden, schlafen. Wie funktionie­rt das?

Wollte man heute den Blutfreita­g von Grund auf organisier­en, ginge das wohl gar nicht mehr. Das geht nur mit der großen Unterstütz­ung der Stadt Weingarten, der Ordnungsun­d Hilfsdiens­te und vor allem der Quartierge­ber. Denn diese öffnen Haus und Hof. Da werden Scheunen, Werkhallen, ja ganze Autohäuser ausgeräumt. Die Reiter schlafen neben ihren Pferden im Schlafsack. All das lebt von großer Herzlichke­it und von einer einmaligen Atmosphäre!

Welche Motivation entdecken Sie bei Quartierge­bern, Reitern, Helfern und den Pilgern?

Wer einmal dabei ist, ist immer dabei. Diese Verbundenh­eit geht oft auch über Generation­en. Und wahrschein­lich ist sie so tief, weil doch damit der Segen des kostbaren Blutes verbunden ist.

Nun ist der Blutfreita­g der Höhepunkt einer ganzen Woche.

Die Woche von Christi Himmelfahr­t gilt im Kirchenjah­r ja als Bittwoche, geprägt vom Gebet zu Arbeit und Alltag, nicht nur in Feld und Flur. Hier in Oberschwab­en mündet sie seit Jahrhunder­ten in den Blutfreita­g, wo sich eine Region bewusst macht, dass es mehr braucht als alles und mehr als nur das, was wir tun können.

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