„Das eigene Christsein bedenken und vertiefen“
Dekan Ekkehard Schmid spricht über die Verehrung der Heilig-Blut-Reliquie am Blutfreitag in Weingarten, Europas größte Reiterprozession und seinen ganz persönlichen Zugang zu diesem Fest der Volksfrömmigkeit
- Der Freitag nach Christi Himmelfahrt ist im oberschwäbischen Weingarten Feiertag. Die Verehrung der Heilig-Blut-Reliquie am Blutfreitag gehört seit mehr als 900 Jahren zum festen Brauchtum der Stadt. Der Legende nach birgt die Reliquie, die in der Basilika St. Martin aufbewahrt wird, einen Blutstropfen von Jesus Christus. Beim Blutritt, der in den letzten beiden Jahren wegen der Corona-Pandemie nur in sehr eingeschränkter Form möglich war, trägt der HeiligBlut-Reiter, Dekan Ekkehard Schmid, die Reliquie durch die Stadt und die Fluren. Bis zu 2500 Wallfahrer – und in diesem Jahr erstmals auch Wallfahrerinnen – begleiten ihn bei Europas größter Reiterprozession hoch zu Ross. Die Festpredigt am Vorabend hält Abt German Erd vom Stift Stams im Tiroler Oberland. Im Gespräch erklärt Dekan Schmid die Hintergründe.
Herr Dekan, nach zwei Jahren Zwangspause in Zeiten der Pandemie findet in diesem Jahr wieder der Blutritt in Weingarten statt. Kann angesichts der gewaltigen Krisen so ein Fest der Volkskirche eigentlich mit gutem Gewissen gefeiert werden?
Ja, sicher. Denn die Botschaft 2022 lautet: In Zeiten der Pandemie, des Klimawandels und des Krieges ist der Blutritt der Ort des Vertrauens auf Gott und der Stärkung durch ihn. Das ist in schwieriger Zeit notwendig. Da mit seinem Blut das Leiden Jesu Christi im Mittelpunkt steht, gibt es auch keinen Grund, den Blutfreitag wegen des Kriegs in der Ukraine ausfallen zu lassen. Im Gegenteil, wir werden das Blutvergießen dort und die Not der Menschen in diesem Jahr mit in unser Gebet nehmen.
Sie sprechen davon, dass das Blut Christi im Mittelpunkt des Blutrittes stehe. Was hat es damit auf sich?
Das Blut verweist uns auf Jesu Passion und damit auf sein Leiden wie auf seine Liebe, die stärker ist. Über den Lanzenträger Longinus kam es nach der Tradition nach Mantua, wo es im 11. Jahrhundert wiederentdeckt und aufgeteilt wurde. Dass es kurz darauf nach Weingarten kam, verdanken wir der hochadeligen Hochzeit von Welf IV., vor allem aber seiner Braut Judith von Flandern, in deren Besitz die Reliquie war. Bei uns steht am Anfang also kein Mann, sondern eine Frau.
Dadurch dass die Hauptreliquie bis heute noch immer in Mantua in der Konkathedrale gezeigt wird, haben wir selten genug – zugleich eine doppelte Verehrungsgeschichte derselben Reliquie. Am Blutfreitag geht es – einfach gesagt – darum, sein Christsein zu bedenken und zu vertiefen oder auch wiederzuentdecken. Denn der Blutfreitag ist ja niederschwellig. Manchen genügt die Außenseite, man kann und soll ihn aber auch von seiner Innenseite her entdecken und erleben.
Was gibt es auf der Außenseite zu entdecken?
Zunächst ein einzigartiges und riesiges Ineinander und Nebeneinander von Pferden und Menschen, Musik und Glocken, Bratwurst und Rosenkranz. Der Blutfreitag trennt nicht zwischen kirchlich und weltlich, Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Stadt und Land. Die „Uniformen“(Frack und Zylinder) machen die Menschen im besten Sinne gleichwertig. Hier verbindet sich vieles. Und doch ist es kein Volksfest, sondern der Blutritt als Prozession hat seine einmalige spirituelle Größe und Tiefe, denn viele legen in diesen Tag laut oder leise ihre persönlichen Bitten und Anliegen.
Also gibt es die Bitte um ganz praktischen Nutzen.
Ja. Die Prozession führt dorthin, wo man den Segen braucht. Hier wird auch für eine gute Aussaat und eine gute Ernte gebetet. Dass der Blutritt durch die Natur führt, eröffnet aber eine weitere Dimension: Wir sind für den Lebensraum und die Schöpfung verantwortlich.
Und Sie sprechen von der Innenseite.
Eine Wallfahrt ist zunächst immer etwas Persönliches: Man macht sich auf den Weg mit den eigenen Anliegen, aber auch mit den großen persönlichen Fragen des Woher, Wohin, Wozu. Man will anders zurückkommen: versöhnter mit dem eigenen Leben. Daher gibt es auch das Angebot zur Beichte. Gottes Wort soll neu im Ohr und im Herz erklingen: Daher
Im Jahr 2007 kam Ekkehard Schmid als Pfarrer der Katholischen Kirchengemeinde St. Martin nach Weingarten. Seit Januar 2012 leitet er zudem im Auftrag des Bischofs das Dekanat Allgäu-Oberschwaben. Neben seinen Verpflichtungen als Gemeindepfarrer von inzwischen allen drei Stadtpfarreien ist er für den Blutritt hauptverantwortlich. Bis zur Auflösung des Klosters übernahm die Aufgabe des Heilig-Blut-Reiters immer ein Geistlicher aus der Abtei. Seit dem Weggang der Mönche im Herbst 2010 trägt der Pfarrer selbst die Reliquie mit dem Blutstropfen Christi hoch zu Ross segnend durch Straßen und Fluren. die Festpredigt oder die Predigt beim Pilgergottesdienst. Und der Pilger soll gestärkt auch durch die Mitfeier der Gottesdienste werden. Hinzu kommt die große Gemeinschaftserfahrung an diesem Tag.
Warum ist und bleibt die Verehrung der Blutstropfen so wichtig? Die Mystik des leidenden Jesus zeigt uns: Diese Tradition hat mit uns, mit den Leiden dieser Welt zu tun. Das war schon immer ein Thema. Wieviel spricht man heute von Vulnerabilität! Nach dem Zweiten Weltkrieg lösten viele Heimkehrer Gelöbnisse ein. Persönliche Anliegen spielten und spielen eine Rolle. Ein alter Blutreiter sagte einmal: In jungen Jahren sei die Neugier die Motivation zum Blutritt gewesen, später als Landwirt und Familienvater die Bitten und nun im Alter der Dank.
Sie blicken auf eine lange Tradition zurück. Wo knüpft diese an?
Den Brauch gibt es seit dem späten Mittelalter. Seit 1519 wird der Blutritt durchgängig gefeiert. Damit ist er die älteste Reiterprozession weit und breit, das Original.
Woher stammt die Tradition der Reitergruppen?
Im 17. Jahrhundert schickten die oberschwäbischen Reichsstädte und Herrschaften ihre Reiterkompanien, heute kommen Abordnungen aus den umliegenden Gemeinden und Städten. In Zeiten der Aufklärung war der Blutritt verboten, wurde aber kurz darauf trotzdem wieder gefeiert. Erst ohne Pferde, dann wieder mit. Soweit ich weiß, wurde das Verbot bis heute nicht offiziell aufgehoben. Ab 1900 wurden dann in den Kirchengemeinden Blutreitergruppen gegründet, die mit ihrem
Musikverein, ihrem Geistlichen und manchmal auch mit ihrem Bürgermeister dabei sind.
Und wenn ich ganz für mich alleine teilnehmen will?
Blutreiter kann man nur als Mitglied in einer Gruppe sein. Individualpilger zu Pferd sind nicht vorgesehen. Dennoch sind der zahlenmäßige Großteil der Pilger am Blutfreitag nicht die Reiter, sondern die vielen Besucher am Weg, in der Basilika bzw. bei der Lichterprozession.
Wann sind eigentlich die Pferde hinzugekommen? Und warum? Pferde sind seit jeher als Arbeitstiere dabei, der Blutritt ist ja in gewisser Weise auch eine Pferdesegnung und betont die Fürsorge des Menschen für die Tiere. Aber auch als Transportmittel für die Anreise nach Weingarten waren sie über Jahrhunderte geradezu notwendig.
Welche Bedeutung hat sich über die Jahrhunderte erhalten?
Viele verbinden den Blutfreitag mit Tradition und das zu Recht. Hier gibt es klare Formen, Regeln und Rituale. Das macht den Unterschied und ist entscheidend. Dieses uralte Fest lehrt uns, dass dem heutigen Menschen, der sich im Alltag oft als Entwurzelter oder Isolierter erfährt, gerade diese tiefe Erfahrung von Eingebundensein gut tut. Ich wüsste kein älteres, größeres und durchgängigeres Ritual in Oberschwaben als den Blutfreitag, in das man eindrücklicher eintauchen könnte.
Wie ist denn Ihre persönliche Blutreiter-Geschichte?
Als Ministrant habe ich einen weiten Bogen um Pferde gemacht. Erst später, als ich Vikar war, wurde ich geSegnen. beten, den erkrankten Pfarrer meiner Heimatpfarrei Ochsenhausen bei einer Reiterprozession zu vertreten. Seither bin ich dabei. Ich war später Pfarrer in Neuhausen auf den Fildern und hatte in gewisser Weise Heimweh nach dieser oberschwäbischen Frömmigkeit. Nachts um zwei Uhr bin ich immer losgefahren. In dieser Zeit habe ich den Blutritt besonders intensiv erlebt.
Wie haben Sie die zweijährige Zwangspause erlebt?
Wie viel fehlt, wenn der Blutfreitag fehlt, ist vielen in den vergangenen beiden Jahren bewusst geworden, wo wir diesen Tag nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit feiern mussten.
Was ist Ihre Aufgabe bei der Prozession?
Donnerstag, 26. Mai (Christi Himmelfahrt): 19.15 Uhr: Abendmesse mit dem Basilikachor in der Basilika
20.30 Uhr: Festpredigt durch Abt German Erd vom Stift Stams, Tirol
Anschließend Lichterprozession zum Kreuzberg mit gemeinsamer Andacht der Pilger Freitag, 27. Mai (Blutfreitag):
7 Uhr: Übergabe der Heilig-BlutReliquie an den Blutreiter am Kirchenportal, Beginn des Blutritts in der Abteistraße
11 Uhr: Empfang der Heilig-BlutReliquie im Äußeren Klosterhof: Schlusssegen und Te Deum
11.15 Uhr: Pontifikalamt mit Abt German Erd Und segnen ist immer etwas Positives und will Positives in uns bewirken, nie Negatives.
In diesem Jahr dürfen erstmals Frauen beim Blutritt mitreiten. Wie kam es dazu?
2020 gab es den Beschluss des Kirchengemeinderates. Bis dahin war der Blutritt eine reine Männerwallfahrt. Es gab nur Ministrantinnen. Wir wollten mit unseren Möglichkeiten ein positives Zeichen der Kirchenreform setzen. Das Zeugnis des Glaubens und das Gebet sind uns wichtig, nicht die Frage ob Mann oder Frau.
Wie war die Reaktion der teilnehmenden Gruppen?
Jede Gruppe kann jetzt autonom entscheiden, ob sie Frauen zulässt oder nicht.
Erwarten Sie viele Frauen, die mitreiten?
Dieser Entwicklung muss man Zeit geben. Wichtig ist der Konsens in den Gruppen. Die Teilnahme von Frauen muss sich organisch entwickeln. Von unten sozusagen. Es gibt kein Richtig, kein Falsch.
Wie ist Ihre persönliche Sicht auf diese Entwicklung?
Ich nenne drei weitere Punkte: Da sind zum einen die klassischen Blutreiterfamilien. Was, wenn die nächste Generation Mädchen sind? Zweitens: Frauen tun mancher Blutreitergruppe zahlenmäßig durchaus gut. Drittens: Der Reitsport ist sehr weiblich geworden.
Den Kirchen laufen die Gläubigen davon. Ist diese Demonstration der Volkskirche, die es nicht mehr gibt wie früher, überhaupt noch zeitgemäß?
Der Blutritt braucht und bildet ein starkes Netzwerk – auch das Jahr über. Sonst wäre er nicht möglich. Und er hat schon manch Zeitgemäßes überdauert. Ich würde auch weniger von einer Demonstration der Volkskirche reden, sondern vielmehr, dass es nach wie vor vielen Menschen ein großes Anliegen ist, an diesem Tag von überall her dabei zu sein und durchaus auch ein öffentliches Zeichen der Besinnung und des Gebetes zu setzen.
Lassen Sie uns über ganz praktische Fragen sprechen. 2500 Pferde, Reiter, Helfer reisen an, müssen verpflegt werden, schlafen. Wie funktioniert das?
Wollte man heute den Blutfreitag von Grund auf organisieren, ginge das wohl gar nicht mehr. Das geht nur mit der großen Unterstützung der Stadt Weingarten, der Ordnungsund Hilfsdienste und vor allem der Quartiergeber. Denn diese öffnen Haus und Hof. Da werden Scheunen, Werkhallen, ja ganze Autohäuser ausgeräumt. Die Reiter schlafen neben ihren Pferden im Schlafsack. All das lebt von großer Herzlichkeit und von einer einmaligen Atmosphäre!
Welche Motivation entdecken Sie bei Quartiergebern, Reitern, Helfern und den Pilgern?
Wer einmal dabei ist, ist immer dabei. Diese Verbundenheit geht oft auch über Generationen. Und wahrscheinlich ist sie so tief, weil doch damit der Segen des kostbaren Blutes verbunden ist.
Nun ist der Blutfreitag der Höhepunkt einer ganzen Woche.
Die Woche von Christi Himmelfahrt gilt im Kirchenjahr ja als Bittwoche, geprägt vom Gebet zu Arbeit und Alltag, nicht nur in Feld und Flur. Hier in Oberschwaben mündet sie seit Jahrhunderten in den Blutfreitag, wo sich eine Region bewusst macht, dass es mehr braucht als alles und mehr als nur das, was wir tun können.