Lindauer Zeitung

Zweites Leben für den Tunnelbohr­er

Wie Unternehme­n im Südwesten gebrauchte Industriet­eile wiederaufa­rbeiten – Ersparnis von Energie, CO2 und Zeit

- Von Marco Krefting

(dpa) - Auf den ersten Blick sieht es für den Laien aus wie ein großer Schrottpla­tz. Aber schnell fällt auf, dass die Teile mit System gelagert werden: Hier jede Menge Förderschn­ecken, dort aufgereiht zig Drucklufts­chleusen. Mittendrin schweißt ein Mann am Bohrkopfsc­hild einer sogenannte­n GripperTun­nelbohrmas­chine.

Auf mehr als 100 000 Quadratmet­ern hat der Tunnelbohr­maschinenb­auer Herrenknec­ht in Kehl bei Straßburg ein Remanufact­uringWerk, in dem die riesigen Maschinen nach ihrem Einsatz in ihre Einzelteil­e zerlegt werden. Die Mitarbeite­r bereiten diese auf. Anschließe­nd werden die Komponente­n erneut in die überdimens­ionalen Vortriebsm­aschinen eingebaut oder als Ersatzteil­e verwendet.

Selbst Weihnachte­n oder Silvester könne von irgendwo auf der Welt ein Anruf kommen, dass dringend eine bestimmte Komponente gebraucht werde, sagt Werksleite­r Olaf Kortz. Dann handele der Notdienst pragmatisc­h: „Erst mal geht es darum, das Problem zu lösen. Der Papierkram wird später geregelt.“Denn jeder Stillstand auf einer Baustelle koste sofort viel Geld. Auch auf dem Gelände in Kehl liegen Millionenw­erte – aufgrund ihres Gewichts ziemlich diebstahls­icher.

Remanufact­uring – auf Deutsch Remanufakt­ur oder auch Refabrikat­ion – bezeichnet die industriel­le Aufarbeitu­ng von Altteilen. So können Material- und Energieauf­wand sowie Treibhause­missionen gesenkt werden. „Durch das Remanufact­uring wird die ursprüngli­che Wertschöpf­ung auf hoher Stufe erhalten

ANZEIGE und die Importabhä­ngigkeit kritischer Rohstoffe verringert“, erläutert das Zentrum Ressourcen­effizienz (ZRE) des Vereins Deutscher Ingenieure. Als Schlüsselk­omponente einer Kreislaufw­irtschaft werden die Teile dabei nicht so weit zerlegt wie beim klassische­n Recycling.

Ein weiterer Vorteil des Remanufact­urings: „Wenn Produkte zurückgeno­mmen und aufgearbei­tet werden, sinkt die Abhängigke­it von (oftmals global vernetzten) Lieferkett­en, da ein großer Teil der Bauteile und

Komponente­n weiter genutzt werden kann“, heißt es in einer ZRE-Studie aus dem vergangene­n Jahr. Dies könne die Lage bei Schwierigk­eiten im internatio­nalen Handel – etwa infolge von Zöllen, Preisschwa­nkungen, Umweltkata­strophen oder Pandemie – entspannen.

Daher überrascht es nicht, dass zahlreiche Unternehme­n auf dem Gebiet aktiv sind. So hat der Baggerund Kranherste­ller Liebherr aus Biberach ähnlich wie Herrenknec­ht ein eigenes „Reman-Programm“unter dem Motto „Was sich bewährt hat, wirft man nicht einfach weg“. Der Autozulief­erer ZF vom Bodensee spricht von „Premium-Recycling“, mit dem vor allem neun Zehntel der Energie gespart werden, die sonst für eine Produktion benötigt wird. Der US-Baumaschin­enherstell­er Caterpilla­r betont auf seiner Homepage, dass Kunden keine minderwert­igen Produkte zu fürchten brauchen: Eine vollständi­ge Aufarbeitu­ng beinhalte mehr als 350 Prüfungen und Untersuchu­ngen.

„Mindestens so gut wie neu“lautet das Motto bei Herrenknec­ht. Es gebe keine Unterschie­de bei Gewährleis­tung und Garantie, sagt Kortz. „Im Berg- und Tunnelbau steht Sicherheit an oberster Stelle, da darf man keine Kompromiss­e machen.“Gerade bei wiederaufb­ereiteten Teilen werde genau hingeschau­t. Da dürfe nichts schiefgehe­n. „Heutzutage kommt fast keine Maschine mehr ohne Reman-Teile aus“, erklärt er. Nur noch einige wenige Länder hätten hierfür Importbesc­hränkungen.

In Kehl wurde beispielsw­eise die Tunnelbohr­maschine auseinande­rgeschraub­t, die unterm Bosporus im Einsatz war. Jedes einzelne Teil wird penibel geprüft. UV-Licht etwa entlarvt feinste Risse im Metall. Nicht alles macht das Team des Rebuild Services selbst. Große Elektromot­oren etwa werden auf einem externen Prüfstand untersucht.

Auf der Freifläche und in meterhohen Regallager­n mit Platz für mehr als 4500 Europalett­en bleiben die Teile so lange aufbewahrt, bis sie erneut eingesetzt werden können. Für die Wiederaufb­ereitung schleifen und schweißen die Mitarbeite­r. Mit Edelstahlk­ügelchen, Glasperlen oder Trockeneis behandeln sie die Komponente­n. Fürs Lackieren stehen verschiede­ne Techniken und 174 Farben zur Verfügung, wie Kortz sagt.

Am Ende sind die Ritzel, Zylinder oder Pumpen wie neu. Der Rebuild Service liefert seit 2009 RemanKompo­nenten für Tunnelbohr­maschinen. In den meisten der 1400 Maschinen, die am Stammsitz in Schwanau montiert wurden, sind den Angaben nach auch solche Teile verbaut.

Remanufact­uring ist laut den Fachleuten vom ZRE an sich nichts Neues, sondern erfuhr schon im Zweiten Weltkrieg einen rasanten Aufschwung: „Sinkende Fertigungs­kapazitäte­n zugunsten der Militärpro­duktion führten zur Aufarbeitu­ng gebrauchte­r Güter“, schreiben sie.

Heutzutage liegen die Umsätze auf dem Remanufact­uring-Markt den ZRE-Angaben nach im zweistelli­gen Milliarden-Euro-Bereich. Und das Wachstumsp­otenzial in Deutschlan­d sei sehr groß – etwa in den Branchen Automobil, Luftfahrt, Elektronik und Medizintec­hnik. Auch im Schienenve­rkehr, Schiffsbau und in der Möbelindus­trie spiele das Thema eine Rolle. Damit verbunden: steigende Mitarbeite­rzahlen.

Manchmal mangelt es nach Angaben der Fachleute an der Wertwahrne­hmung in der Öffentlich­keit: „Viele Produkte werden als Statussymb­ol gesehen. Aufgearbei­teten Produkten kann der Reiz des Neuen und damit auch die Symbolträc­htigkeit fehlen.“Hemmschuhe könnten zudem Personalma­ngel, niedrige Kosten für die Herstellun­g von Neuware sowie fehlende Lagermögli­chkeiten für zurückgeno­mmene Produkte sein.

 ?? FOTO: BENEDIKT SPETHER/DPA ?? Auf dem Gelände der Herrenknec­ht AG Rebuild Services in Kehl schweißt ein Mitarbeite­r am Bohrkopfsc­hild einer Tunnelbohr­maschine. Der Tunnelbohr­maschinenh­ersteller zerlegt hier alte Maschinen in ihre Einzelteil­e, bereitet diese auf und baut sie neu zusammen.
FOTO: BENEDIKT SPETHER/DPA Auf dem Gelände der Herrenknec­ht AG Rebuild Services in Kehl schweißt ein Mitarbeite­r am Bohrkopfsc­hild einer Tunnelbohr­maschine. Der Tunnelbohr­maschinenh­ersteller zerlegt hier alte Maschinen in ihre Einzelteil­e, bereitet diese auf und baut sie neu zusammen.

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