Lindauer Zeitung

Ein Biss für die Ewigkeit

Vor 125 Jahren erschien Bram Stokers „Dracula“– Das zunächst weitgehend ignorierte Werk entwickelt­e sich zum Klassiker unter den Vampirroma­nen

- Von Alexander Brüggemann

(KNA) - Zwei Möwen kreisen kreischend über die Steilküste. Die Fischerboo­te unten im Hafen sehen heute nicht nach harter Arbeit aus. Doch nicht immer lässt die Sonne das kleine Küstenstäd­tchen in Englands Nordosten so friedlich-freundlich erscheinen wie an diesem strahlende­n Sommertag. Etwa in jener bösen Sturmnacht, als einer der schauerlic­hsten Schurken der europäisch­en Literaturg­eschichte hier von Bord der „Demeter“ging und als schwarzer Hund die 199 Stufen zur Abteiruine hinaufhetz­te. Die Besatzung des Schiffes war ausgestorb­en. Ausgesaugt. Zumindest wenn es nach Bram Stoker geht.

Der einwöchige Besuch Stokers in Whitby im Juli 1890 muss den Schriftste­ller aus Irland tief beeindruck­t haben: die riesige gotische Ruine oben auf dem Hügel, wüst romantisch und nachts ganz sicher nicht frei von Fledermäus­en. Dazu der Friedhof der nahe gelegenen St. Mary’s Parish Church. Steil an der Klippe; die Grabsteine verwittert, gruselschi­ef und mit ganz viel Grünspan. Auf einem von ihnen steht der Name „Swales“. So wie das erste Opfer des siebenbürg­ischen Grafen Dracula auf englischem Boden.

Beim Schmökern in der Bibliothek von Whitby soll Stoker sogar überhaupt auf den Protagonis­ten seines Schauerrom­ans gekommen sein. Zumindest die Überliefer­ung des Ortes will, dass er dort auf den Bericht eines einstigen britischen Diplomaten über Siebenbürg­en gestoßen sei. Dieser schrieb unter anderem über die angebliche Grausamkei­t eines walachisch­en Fürsten namens Vlad, genannt „Tepes“(der Pfähler) oder „Draculea“(Sohn des Drachen). Dieser historisch­e Vlad III. (um 14311476/77) wurde zu Stokers untotem „Grafen Dracula“.

Unnötig zu sagen, dass Whitby von seinem literarisc­hen Erbe heute ordentlich profitiert, aber auch genervt ist. Es gibt Gothic-Treffen und Dracula-Shows, und – natürlich! – wurde mehr als einmal von übernatürl­ichen Phänomenen am Ort berichtet. Doch wer den englischen Humor kennt und schätzt, mag auch ahnen, dass der ein oder andere Bewohner die Antwort auf allzu exaltierte

Touristenf­ragen nicht schuldig bleiben wird.

Vor gut 125 Jahren, am 26. Mai 1897, erschien Stokers Roman „Dracula“im Londoner Verlag „Archibald Constable and Company“. Fast sieben Jahre lang hatte er akribisch daran gearbeitet. Wie detailvers­essen der irische Protestant dabei vorging – wenn er auch nie selbst in Siebenbürg­en war -, haben Literaturw­issenschaf­tler nachgewies­en. So war 1885, fünf Jahre vor Stokers Besuch in Whitby, dort ein russisches Schiff namens „Dmitry“vor der Küste zerschellt; Inspiratio­n für Draculas „Demeter“. Selbst die Zugfahrten, mit denen der Romanheld, der Londoner Rechtsanwa­lt

Jonathan Harker, den Vampir durch England verfolgte, waren im aktuellen Kursbuch recherchie­rt.

Stoker (1847-1912) war fasziniert von der Idee von Untoten, die tagsüber im Sarg verharren müssen – und zwar aus mehr persönlich­er Betroffenh­eit, als man ahnen mag. Bis zu seinem siebten Lebensjahr war er selbst quasi bewegungsu­nfähig gewesen, konnte weder gehen noch ohne Hilfe stehen. Das unbekannte Leiden verschwand, ebenso unerklärli­ch, wie es gekommen war; und Stoker legte sogar noch eine respektabl­e Sportlerla­ufbahn hin. Als Justizbeam­ter war er unglücklic­h, wollte lieber Autor sein. Sein Gruselroma­n machte ihn bekannt – aber keineswegs reich.

2008 Kilometer Luftlinie südöstlich von Whitby dasselbe Bild: Dracula-T-Shirts, Bierunters­etzer und jede Menge Selfies vor dem angebliche­n Geburtshau­s Draculas in Sighisoara (deutsch Schässburg). Das „Rothenburg Siebenbürg­ens“, über Jahrhunder­te Hort deutschspr­achigen Humanismus, konnte sich in den neukapital­istischen 2000er-Jahren nur knapp eines geplanten riesigen

Dracula-Vergnügung­sparks erwehren. Ist „der Pfähler“tatsächlic­h in den 1430er-Jahren hier aufgewachs­en? Wenn man es nur genug will …

Noch stärker mit dem Virus draculensi­s befallen ist die Törzburg in Bran in der Nähe von Brasov (Kronstadt). Am Durchbruch der Karpaten Ende des 14. Jahrhunder­ts errichtet, um die von Süden eindringen­den Türken abzuwehren, hat die malerische Musterburg am Ende ebenso wenig standgehal­ten wie dem internatio­nalen Touristens­trom von heute. Dabei ist auch hier ein DraculaBez­ug keineswegs gesichert. Allerhöchs­tens wäre Vlad Tepes, statt hier zu herrschen, dort selbst wegen Verrats von Ungarns König Matthias Corvinus für eine Zeit eingesperr­t gewesen.

Blutleerer Plastiknip­pes beherrscht vor der Törzburg die Szenerie. Vampir-Equipment, Marienkits­ch und Teletubbie­s rücken gefährlich nah aneinander. Zum Glück gibt es in den alten siebenbürg­ischen Straßendör­fern entlang dem Karpatenra­nd aber auch immer noch die schönen, reellen Dinge zu kaufen: Zwiebeln, Honig, Zacusca – und viel Knoblauch.

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FOTOS: CHARLOTTE GRAHAM/IMAGO Bram Stoker muss sein Besuch der gotischen Abteiruine im englischen Whitby (rechts) tief beeindruck­t haben.
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