„Die einen erschossen sie mit Pfeilen, die anderen pfählten sie in ihren Heiligtümern.“
Der griechische Geograf Strabon
über die Kelten
Aber um welche Art des Dahinscheidens geht es? „Die Toten könnten Zivilisten sein, die in irgendeinen kriegerischen Konflikt um die Heuneburg geraten sind“, spekuliert Dirk Krausse, Landesarchäologe am Landesamt für Denkmalpflege und Keltenspezialist. Er hält dies für naheliegend. Für ihn ist aber auch denkbar, dass es um ein Ereignis „zwischen Menschenopfer und Bestrafung“geht.
Ein weites Feld also. Letztlich macht bereits die Definition von Menschenopfer Schwierigkeiten. Unabhängig von der Heuneburg betrachtet, sind beispielsweise Riten vorstellbar, bei denen im Kampf gefallene Feinde in einem Hain zu Ehren einer der vielen keltischen Götter niedergelegt wurden. Dies wäre die vergleichsweise harmlosere Variante. Denkbar wäre aber auch, dass man Menschen rituell massakriert hat.
Wer antike Autoren liest, stößt schnell auf Texte über Horrorbräuche. Da ist zum einen Gaius Julius Cäsar. Der legendäre Römer hat 58 bis 50 vor Christi Geburt einen Feldzug gegen die Keltenstämme im gallischen Gebiet geführt. In seinem Bericht darüber erwähnt er deren befremdliches Tun. So hätten die Gallier große Körbe mit lebenden Menschen gefüllt und sie darin verbrannt. Druiden als kultische und geistige Elite seien die Überwacher solcher Opferungen gewesen.
Kurz nach der cäsarischen Ära schreibt der aus dem damals römischen Kleinasien stammende Geograf Strabon über den Umgang der Kelten mit ihren Feinden: „Die einen erschossen sie mit Pfeilen, die anderen pfählten sie in ihren Heiligtümern.“Einige Jahrzehnte später notierte der römische Dichter Marcus Annaerus Lucanus mit Blick auf ältere Quellen, verschiedene keltische Götter würden verschiedene Opfer verlangen. Der Oberheilige Teutates beispielsweise freue sich über Ertränkte.
Doch wie glaubhaft sind solche Beschreibungen? Sie könnten Übertreibungen sein – schwarze Propaganda. Dies liegt daran, dass die besagten antiken Autoren entweder Römer oder Griechen waren – und damit Vertreter der Hochkulturen am Mittelmeer. Abseits von dessen Gestaden verorteten sie arrogant Barbarengebiet.
Bei den Römern kommt hinzu, dass Kelten für sie eine Art Angstgegner waren. Dies beruht auf Ereignissen im späten vierten vorchristlichen Jahrhundert. Dem keltischen Heerführer Brennus gelang die Eroberung Roms. Nur auf dem Kapitolshügel hielten sich die Römer. Der folgende Frieden war für sie bitter. „Wehe den Besiegten“, schleuderte ihnen Brennus laut der Sage entgegen.
Den keltischen Gegner zu verteufeln, wäre also nachvollziehbar. Eine gängige Strategie. Die Sicht der Kelten ist nicht überliefert, denn sie sind weitgehend ohne eigene Schriftdokumente geblieben. Nur archäologische Grabungen lassen Schlüsse zu – aber eben nur schemenhafte.
Wobei langsam mehr Licht ins Dunkel kommt. Hochinteressant sind die Ausgrabungen bei Ribemont-sur-Ancre in Nordfrankreich ab 1966. Dort scheinen die Kelten ein Heiligtum gehabt zu haben. In einem Teil der Anlage fanden Archäologen auf nur 35 Quadratmetern die Überreste von bis zu 140 Männern im Alter von 15 bis 45 Jahren, einst wohl luftgetrocknet und aufrecht an ein Gestell gebunden. Dazu stießen die Ausgräber auf 300 Waffen. In einem Nachbarareal lagen nochmals unzählige menschliche Knochen plus Tiergebeinen und Trinkgefäßen. Ein Ort, um inmitten toter Feinde Feste zu feiern?
Wobei in der Knochenansammlung die Schädel fehlen. Anhand antiker Quellen und einzelner Funde wird vermutet, dass sie keltischen Kriegern als Siegestrophäen dienten. Zur Interpretation des Gefundenen existieren zwei gegenseitige Meinungen.
Ausgrabungsleiter Jean-Louis Brunaux vom Centre archéologique départemental glaubt, in Ribemontsur-Ancre seien feindliche Krieger den Göttern der Unterwelt geopfert worden. Die Leipziger Professorin für Ur- und Frühgeschichte Sabine Rieckhoff hingegen vermutet einen gewöhnlichen Bestattungsplatz.
An weiteren Orten gibt es ebenfalls Klärungsbedarf. Rund 50 Kilometer von Ribemont-sur-Ancre sind Archäologen beim Dorf Gournaysur-Aronde auf seltsam drapierte Skelette gestoßen. Eine andere Fundstätte liegt in der Westschweiz auf dem Berg Mormont. Angeblich gibt es Hinweise, dass Menschen dort sogar gekocht wurden. Die Archäologen legten zudem eine Grube frei, in die scheinbar achtlos Leichen geworfen worden waren.
Dieser Fund führt wiederum zurück zur Heuneburg – oder genauer gesagt zu einem Ort in deren Nähe: die Alte Burg, rund neun Kilometer entfernt. Die Stätte befindet sich auf einem Berg der Schwäbischen Alb bei Langenenslingen. Dem Wanderer fällt im dichten Buchenwald ein tiefer Graben mit einem eindrucksvollen hohen Wall dahinter ins Auge. Infotafeln informieren: Der Wall war einst eine mindestens zehn Meter hohe Trockensteinmauer. Sie trennte offenbar einen keltischen Kultplatz vom Bergrücken ab.
Archäologen zufolge wurde er zwischen dem 8. und 4. Jahrhundert vor Christi Geburt genutzt. Eine Zeitspanne, in die auch die hohe Zeit der Heuneburg fällt. Sehr erstaunlich dabei: Das seinerzeit künstlich eingeebnete Gelände hat die Form einer antiken Wagenrennbahn, wie sie aus dem Mittelmeerraum bekannt ist. Sportliche Veranstaltungen sind vorstellbar. Ben Hur auf der Alb?
In der Mitte der Fläche lässt sich jene Stelle finden, die an Menschenopfer in einer Grube denken lässt. Sie ist jetzt oberirdisch als Steinhaufen identifizierbar. Darunter ist ein fünf Meter in den Kalkfels hineinreichender Schacht. Bei einer ersten Ausgrabung 1894 wurden dort sechs übereinander liegende Skelette gefunden. 2006 und 2007 stießen Archäologen auf weitere menschliche Knochen. Sie seien „als Zeugnisse von kultischen Handlungen zu interpretieren“, heißt es in Fachaufsätzen.
Wissenschaftler wie Landesarchäologe Krausse vermuten, die Alte Burg könne Kultplatz der Heuneburg gewesen sein – zumal es nach jüngsten archäologischen Befunden einen Weg zwischen beiden Orten gab. Bestätigt ist auch eine Sichtachse vom äußeren Tor der Heuneburg zwischen zwei Grabhügeln hindurch zur Alten Burg. Wohl kein Zufall.
Die Forschung hat zuletzt eine ganze Keltenlandschaft um die Heuneburg herum ausgemacht: weitere Orte, Fliehburgen, Gehöfte, mögliche Heiligtümer. Immer weiter öffnet sich ein Fenster in die Vergangenheit. Vielleicht ließe sich auch mehr über die Knochen der Heuneburg erfahren.
Ein Fund scheint sogar geklärt zu sein. Es geht um Schädelteile, die unter dem Ofen eines Gebäudes vor den Wällen entdeckt wurden. Keltenforscher Gerd Stegmaier von der Tübinger Universität schreibt von einer aus prähistorischen Zeiten bekannten „rituellen Niederlegung“, die „wohl am ehesten mit einem Opfer oder der Verehrung von Feuer-, Haus- oder Ahnengeistern in Verbindung steht“.
Bleibt jedoch die Frage nach den auffälligen menschlichen Überresten von der Ostterrasse. Der Altertumskundler Moritz Lange, Projektleiter der Staatlichen Schlösser und Gärten für die Heuneburg, spricht von einer „gewissen Gratwanderung, da man vorsichtig an das Thema herantreten muss, um keine Missinterpretationen bei den Gästen hervorzurufen“.
Lange würde ja gerne mehr berichten. Wie es aussieht, werden die acht Toten bis auf Weiteres ein Rätsel bleiben. Was offenbar daran liegt, dass die Grabungsstelle heikel ist: am Hang, feucht, Wasser sickert nach – und dies bei der Notwendigkeit, richtig in die Tiefe zu gehen. „Da braucht man richtig Geld und Personal“, heißt es aus Archäologenkreisen. Bis auf Weiteres wird wohl kein Spaten angesetzt werden.
Also können Heuneburg-Ausflügler ihre Fantasie spielen lassen. Oder wie Papa Siggi mit Familie herzhaft ins Wurstbrot beißen, ohne sich mit dem Wissen um unerfreuliche vorgeschichtliche Ereignisse zu belasten.