„Es gibt niemand gerne zu, einsam zu sein“
Nachbarschafts-Koordination am See setzt erste Pflöcke gegen frühzeitige Pflegebedürftigkeit
- Es sind Menschen, die sowohl Pflegebedürftigkeit als auch den Alltag von Senioren aus unterschiedlichen Blickwinkeln kennen: in Heimen und Pflegediensten, aber auch Ehrenamtliche. An vier Standorten im Kreis Lindau haben sie Projekte der Nachbarschafts-Koordination gestartet. Zwei Jahre spürbar ausgebremst von der Corona-Pandemie, hat sich trotzdem einiges bewegt. Kleine Beispiele zeigen, wieso dieses Engagement wichtiger denn je ist.
Wer aktiv bleibt, wird nicht so schnell zum Pflegefall: Vor diesem Hintergrund hat der Freistaat Bayern 2019 sein Pilotprojekt „Nachbarschafts-Koordination“gestartet. Daran beteiligt sich auch der Landkreis Lindau: An vier Standorten – je zwei am Bodensee und im Westallgäu – haben sich Akteure zusammengefunden.
Das Problem: Die Corona-Pandemie hat erste Ideen zunächst kräftig ausgebremst, etwa geplante Treffen mit Vereinsaktiven. Das haben auch die Kreisräte erkannt: Sie haben die ursprünglich bis Ende 2021 befristeten Projekte um ein Jahr verlängert. So gibt es auch weiter Fördermittel für die vier Aktionsgruppen: Der Kreis lässt sich das in diesem Jahr 100 000 Euro kosten.
Lindau und Wasserburg arbeiten dabei Hand in Hand: Das Seniorenheim Hege und Sabine Schönherr von der Pflege-Insel in Lindau haben die Initiative „Mit dir“ins Leben gerufen und dazu auch eine Internetseite gestalten lassen. Wasserburg hat unter anderem eine Umfrage bei den älteren Menschen in den drei Seegemeinden gestartet, während der Pandemie digital Hilfsangebote abgefragt.
Schönherr und ihre Kollegin bieten in ihren Geschäftsräumen im Schoblochweg etwas zunächst sehr alltäglich Klingendes: zwei KaffeeNachmittage. Eine Tasse Kaffee, ein Stück Kuchen und viel Zeit zum Reden gibt es da für ältere Menschen. Denn Schönherr beobachtet ein großes Thema: „Es ist einfach viel Gesprächsbedarf da.“Dabei seien keine großen Aktivitäten gefragt: „Die wollen sich in erster Linie unterhalten, einfach mal mit jemandem reden.“
Dabei kommen nach Schönherrs Worten vor allem Alleinstehende. Angebote wie das Wallstüble, die Seniorenbegegnungsstätte des BRK, seien sehr wichtig für die ältere Generation.
Denn Vereinsamung gebe es auch in Lindau – auch wenn darüber kaum gesprochen werde: „Es gibt niemand gerne zu einsam zu sein.“Etwa, wenn Partner oder Partnerin verstorben sind und die Kinder nicht mehr am Bodensee leben.
Einsamkeit gilt aber als eine der Ursachen für eine frühe Pflegebedürftigkeit. Und das ist das Kernziel des Modellprojekts NachbarschaftsKoordination: Jenen Zeitpunkt, an dem ein älterer Mensch zum Pflegefall wird, so lange wie möglich hinauszuzögern. So bietet die PflegeInsel unter dem Motto „Sofa ade“ein seniorengerechtes Bewegungsangebot, geleitet von einer Sport- und Tanztherapeutin.
Das Problem nach Schönherrs Worten: „Es ist schwierig, neue Leute zu finden, die solche Ideen umsetzen.“Nicht einmal das Angebot eines Minijobs locke: Wer in Rente gehe, wolle vielfach nicht mehr nach der Uhr leben, „sich nicht mehr zeitlich binden“. Eine Erfahrung, die auch Verantwortliche in der Lindauer Sozialstation kennen. Es sei schwer, Ehrenamtliche zu finden, die bereit sind, „ihren Komfortbereich zu verlassen“, wie es Geschäftsführer Gerhard Fehrer formuliert hat.
Das Interesse an Angeboten der Nachbarschafts-Koordination sieht Schönherr durchaus vorhanden. Wobei nach ihrer Aussage in erster Linie Seniorinnen teilnehmen. Man überlege derzeit, welche Interessen ältere Männer teilen könnten. So gebe es die Idee, in Lindau einen Nachmittag
Sabine Schönherr mit technischen Themen anzubieten, etwa die Möglichkeiten des Smartphones zu erlernen. Denn „das hat die Pandemie deutlich ans Licht gebracht“: In puncto Digitalisierung „wird diese Altersgruppe abgehängt“, wie Schönherr sagt.
Auch das Seniorennetz Lindenberg hat es sich zum Ziel gesetzt, „ältere Menschen zu sozialen Kontakten nach außen zu motivieren“. Um damit „einer Vereinsamung entgegenzuwirken“, wie es von Seiten der Kreisverwaltung heißt. Über 50 verschiedene Angebote seien nach dem Start Anfang 2020 im Westallgäu erfasst worden.
Dann kam allerdings der erste Lockdown – und damit die Herausforderung, „alles zu organisieren, damit die Risikogruppen möglichst nicht aus dem Haus müssen“. Infoblätter und Telefonlisten entstanden. Gemeinsam mit der vierten Aktionsgruppe, dem Seniorennetz Argental, entsteht im Westallgäu die „BürgerMitmach-Börse“mit dem Namen
Geste: „Gemeinsam statt Einsam“.
Die den Kreisräten in einer Sitzung des Sozialausschusses vorgestellte Liste zeigt: Es gibt kreisweit durchaus eine Fülle an Ideen für die ältere Generation. Diese Vielfalt, oft nicht wirklich koordiniert, „verwirrt und überfordert“aber manche Senioren.
„Eine Anlaufstelle, die mit konkreten Informationen, welche Person in welcher Institution beim momentanen Problem weiterhilft und erforderliche Kontakte herstellt, scheint ein großer Wunsch zu sein“, so die Bilanz der Kreisverwaltung.
„Mit Dir – wird’s schön“haben die zusammen agierenden Nachbarschafts-Koordinationen in Lindau und den Seegemeinden ihre Internetseite überschrieben, auf der sie Informationen und Termine veröffentlichen. Sie ist zu finden unter
www.mit-dir.li