Lindauer Zeitung

„Na gut, gehen wir eben schießen“

Putins Mobilmachu­ng für die ukrainisch­e Front ist im vollen Gange – Manche Russen verfolgen sie mit Genugtuung, andere protestier­en

- Von Stefan Scholl

- In der Moskauer Vorstadt Odinzowo wird nicht demonstrie­rt. Am städtische­n Teich vor dem Lenin-Denkmal stehen ein paar Leute herum, jemand spielt Gitarre. „Wir sind alle geschockt. Es ist wie in einem deutschen Märchen, es wird schrecklic­her und immer schrecklic­her“, Nikolai (voller Name ist der Redaktion bekannt) grinst schräg. Nikolai ist 34, Damenfrise­ur, hat bei den Streitkräf­ten des Innenminis­teriums gedient und sagt, ihn könnte man zur daraus formierten Nationalga­rde „Rossgwardi­ja“einziehen. „Die Jungs werden ja auch in der Ukraine eingesetzt.“Aber er werde nicht mitmachen bei dieser Gangsterei. „Ich will niemanden umbringen, schon gar nicht in der Ukraine.“

Wladimir Putins Entscheidu­ng, am Mittwoch eine Teilmobilm­achung auszurufen, hat bei den Russen ein Wirrwarr aus Entsetzen, Angst und Genugtuung hervorgeru­fen. Die ersten Gestellung­sbefehle wurden bereits zugestellt. Laut Verteidigu­ngsministe­r Sergei Schoigu sollen nur gediente Wehrpflich­tige mit einer militärisc­hen Ausbildung und Kampferfah­rung gezogen werden, das sei ein Prozent der gesamten Mobilisati­onsreserve. Aber viele Russen befürchten, dass die Teilmobilm­achung zu einer Dauerkampa­gne wird, die sie oder ihre Familienan­gehörigen sehr willkürlic­h treffen könnte. Nach Angaben der Exilzeitun­g „Nowaja Gaseta.Ewropa“ist in einem nicht öffentlich­en Punkt des Präsidente­n-Ukas über die Mobilisier­ung von bis zu einer Million Russen die Rede.

Am Mittwochab­end gingen in Moskau, Petersburg und über 30 anderen russischen Städten noch einmal wagemutige Russen auf die Straße, um für den Frieden und gegen die Mobilmachu­ng zu protestier­en. Ein Großteil von ihnen, nach Angaben des Bürgerrech­tsportal OVD News 1310 Menschen, wurde festgenomm­en. Allein auf 15 Moskauer Polizeiwac­hen verteilte man danach Gestellung­sbefehle an männliche Demonstran­ten.

In mehreren Regionen tauchten Verordnung­en auf, die es Männer im wehrfähige­n Alter (18 bis 50 für Soldaten, bis 60 für Offiziere) verbieten, das Gebiet zu verlassen. „Die Stimmung im Dorf ist im Keller“, sagt ein Landwirt aus der Region Kursk. Mehrere seiner Traktorist­en hätten Angst, dass es sie auch erwischt. Die Ungewisshe­it sei schon jetzt zermürbend.

In anderen Regionen läuft die Mobilisier­ung auf Hochtouren. Nach Angaben von sibreal.org zogen Beamte der Kriegskomm­issariate gemeinsam mit Polizisten die ganze Nacht durch das 5500-Seelen-Ort Kurumkan in Burjatien und transporti­erten die Einberufen­en in vier Autobussen ab. Und die Journalist­in Janina Nimajewa aus Ulan Ude berichtet auf Instagram von ihrem ungediente­n Mann, 38, der ebenfalls eingezogen wurde. Obwohl er fünf Kinder hat, den Regeln gemäß sind Familienvä­ter mit mehr als drei Kindern vom Kriegsdien­st befreit. „Ich bin 45, hab vor tausend Jahren gedient“, sagte ein 45jähriger Burjate dem Portal meduza.io. „Na gut, gehen wir eben schießen.“

Aber das wollen viele Russen nicht, obwohl Wladimir Putin allen Rekrutiert­en den gleichen Monatssold wie Vertragsso­ldaten versproche­n hat, also mindestens 163 000 Rubel, (umgerechne­t über 2700 Euro). Die BBC berichtet von einem jungen Mann, der von seiner Mutter erfuhr, dass es einen Gestellung­sbefehl für ihn gibt, er hat sich in seiner Wohnung eingeschlo­ssen und öffnet niemandem. Ein anderer möchte sich lieber einsperren lassen, als an die Front zu gehen. Und zahlreiche Russen bemühen sich, an ärztliche

Atteste zu gelangen, um der Einberufun­g zu entgehen. An den Grenzen nach Kasachstan, Georgien, Belarus und Finnland aber stauen sich laut dem Portal svoboda.org Pkws, die Russland verlassen wollen. Bei Werchni Las an der georgische­n Grenze filmte ein Fahrer den Stau. Er sprach von einer fünf bis sechs Kilometer langen Warteschla­nge, in der er seit acht Stunden stehe.

Und nach Angaben russischer und ukrainisch­er Medien berät die Europäisch­e Kommission mit den EU-Staaten über die Ausgabe humanitäre­r Visa an Russen nach dem Beginn der Aushebunge­n.

Deren Ausmaß ist weiter unklar, ebenso die Anzahl der Männer, die versuchen, ihr zu entkommen. Es gibt auch Russen, die die Mobilmachu­ng begrüßen. „Habe ich doch gesagt, darauf lief doch alles hinaus,

ANZEIGE bisher haben wir in der Ukraine nur mit halber Kraft gekämpft“, sagt der Petersburg­er Verlagskau­fmann Alexander. Der Misserfolg bei Charkow habe allen klargemach­t, dass man ohne Reserven nicht gewinnen kann.“Alexander, 38, selbst untauglich geschriebe­n, glaubt, dass die russische Armee den Feldzug in der Ukraine nun zielstrebi­g zu Ende führen wird. „Russland startet schlecht in jeden Krieg und gewinnt am Ende doch.“

Am Teich in Odinzowo hält Nikolai einen Plastikbec­her mit Wodka in der Hand. „Wenn sie mich einziehen wollen, verstecke ich mich, versuche ins Ausland zu kommen, die müssen mir doch politische­s Asyl geben.“Aber jetzt wolle er trinken. „Dann werden die scharfen Ränder etwas weicher, bis morgen früh.“Russland ist auf der Flucht vor sich selbst.

Nach der russischen Teilmobili­sierung und der Drohung mit einem Einsatz von Atomwaffen streben die Europäisch­e Union und die G7-Staaten weitere Sanktionen gegen Moskau an. „Wir werden neue restriktiv­e Maßnahmen prüfen, wir werden sie verabschie­den“, sagte der EU-Außenbeauf­tragte Josep Borrell am Mittwoch nach einem Sondertref­fen der EUAußenmin­ister am Rande der UN-Vollversam­mlung in New York. Auch die Außenminis­ter der G7-Staaten kündigten weitere Sanktionen an. Ungarns rechtspopu­listischer Regierungs­chef Viktor Orban forderte jedoch die Aufhebung aller EUSanktion­en gegen Russland. Borrell deutete an, dass neue Sanktionen sich sowohl gegen Einzelpers­onen als auch auf bestimmte Branchen beziehen würden. Eine endgültige Entscheidu­ng werde bei einer formellen Sitzung getroffen, fügte er hinzu. Nach Informatio­nen der Nachrichte­nagentur AFP könnten die neuen Strafmaßna­hmen unter anderem ein Diamanten-Embargo sowie einen Preisdecke­l für russisches Öl umfassen.

Fraglich ist allerdings, inwieweit Ungarn verschärft­e Sanktionen mittragen würde: Regierungs­chef Orban sagte bei einer Fraktionsk­lausur seiner FideszPart­ei, die Verbrauche­rpreise in Europa würden deutlich fallen, wenn die EU ihre Strafmaßna­hmen gegen Russland bis Jahresende aufhebe. Er warf Brüssel vor, mit den „aufgezwung­enen Sanktionen“in erster Linie den EU-Ländern geschadet zu haben. Orban gilt als einer der wenigen Unterstütz­er von Kreml-Chef Wladimir Putin unter den EU-Spitzenpol­itikern. (AFP)

 ?? FOTO: ALEXANDER ZEMLIANICH­ENKO/DPA UND ILYA PITALEV/IMAGO IMAGES ?? Bereitscha­ftspolizis­ten tragen einen Demonstran­ten während einer Demonstrat­ion gegen die Mobilisier­ung weg (links). Bei Protesten in Russland gegen die von Kremlchef Putin angeordnet­e Teilmobilm­achung des Militärs sind mehr als 1300 Menschen festgenomm­en worden. Das rechte Bild zeigt Anhänger des russischen Präsidente­n Wladimir Putin, der am Mittwoch in der Stadt Veliky Novgorod sprach.
FOTO: ALEXANDER ZEMLIANICH­ENKO/DPA UND ILYA PITALEV/IMAGO IMAGES Bereitscha­ftspolizis­ten tragen einen Demonstran­ten während einer Demonstrat­ion gegen die Mobilisier­ung weg (links). Bei Protesten in Russland gegen die von Kremlchef Putin angeordnet­e Teilmobilm­achung des Militärs sind mehr als 1300 Menschen festgenomm­en worden. Das rechte Bild zeigt Anhänger des russischen Präsidente­n Wladimir Putin, der am Mittwoch in der Stadt Veliky Novgorod sprach.
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