Luther und kein Ende
Thüringen feiert noch immer 500 Jahre Reformation – 2022 mit dem Themenjahr „Welt übersetzen“
Die Ansichtskarte mit dem „Gruß aus der Lutherstube im Lutherhaus Eisenach“ist ein beredtes Zeugnis aus der Frühzeit des Luthertourismus in Thüringen. Seit 1898 betrieb der geschäftstüchtige Wirt Adolf Lukaß hier seine Schenke Lutherkeller. Gegen Aufpreis konnten die Gäste sogar die darüber liegende Lutherstube mit damals eher zweifelhafter historischen Ausstattung besichtigen. Bemerkenswert ist, dass jahrhundertelang offenbar kaum Interesse an den Originalschauplätzen der Reformation aufkam. Das änderte sich mit dem Jubiläumsjahr 1817. Mitte des 19. Jahrhunderts war neben der Wartburg auch das Haus, in dem der Reformator als Schüler gewohnt hatte, ein beliebtes Ziel für Lutherpilger aus dem In- und Ausland.
Rechtzeitig zum aktuellen Jubiläumsreigen, der 2017 mit 500 Jahre Reformation begonnen hat und sich 2022 mit dem Thüringer Themenjahr „Welt übersetzen“fortsetzt, ist das Lutherhaus Eisenach modernisiert und erweitert worden zu einem herausragenden kulturhistorischen Museum. Zugleich soll es Erinnerungsund Lernort sein, um sich mit dem Reformator in all seinen Facetten auseinanderzusetzen. Herzstück ist die neue, mehrfach preisgekrönte Dauerausstellung „Luther und die Bibel“über die einzigartige Bedeutung von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments. Aber auch der zeitgenössischen Sprache, Literatur, Kunst und Musik schafft die Ausstellung Raum. Kostbarkeiten gibt es zu sehen wie Luthers „Sendbrief vom Dolmetschen“in der Jenaer Gesamtausgabe seiner Werke von 1566 sowie Porträts aus der Cranach-Werkstatt wie „Luther im Pelzumhang“und „Luther im Tode“. Zugleich erhellt eine Sonderausstellung eines der dunkelsten Kapitel der Kirchengeschichte: das grausame Wirken des 1939 von den evangelischen Landeskirchen gegründeten „Entjudungsinstituts“, das sich der „Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“verschrieben hatte und der „Reinigung“der Bibel von ihren jüdischen Wurzeln. Dabei berief es sich auf Luthers judenfeindliche Pamphlete wie die Hetzschrift „Von den Juden und ihren Lügen“, die es gezielt verbreitete. Erschütternd ist zu sehen, wie die Verantwortlichen nach der Auflösung des Instituts mit dem Ende des Naziregimes ihre Karrieren fortsetzen konnten.
Baugeschichtlich ist das Eisenacher Lutherhaus eines der ältesten und mit seiner prachtvollen Renaissancefassade eines der schönsten Fachwerkhäuser in Thüringen. Vom 13. Jahrhundert bis 2012 wurde es durchgängig bewohnt. Luther lebte hier während seiner Schulzeit von 1498 bis 1501. Seine Auftritte als Kurrendesänger hatten die Patriziersgattin Ursula Cotta bewogen, ihn bei sich aufzunehmen. Kurrende bezeichnet den Chor der Schüler, die hier von Haus zu Haus ziehend um Brot für den Lebensunterhalt bitten mussten. In der Stadtkirche St. Georgen gestalteten sie den Gottesdienst, wie fast 200 Jahre später auch der junge Johann Sebastian Bach, der am 23. März 1685 hier getauft wurde. Man kann sich das alles noch lebhaft vorstellen. Vor allem beim Anblick der Kanzel, wo Martin Luther am 2. Mai 1521 nach seiner Rückkehr vom Reichstag zu Worms in der überfüllten Kirche predigte. Obwohl es ihm verboten war, da er sich bekanntlich geweigert hatte, seine Schriften zu widerrufen, strömten die Eisenacher in Scharen herbei, ihn zu hören.
„Keine Stadt kennt mich besser“hat Luther einmal gesagt und Eisenach „meine liebe Stadt“genannt. Ihre heutige Anziehungskraft verdankt der Ort neben der hohen Dichte an Luther’schen Originalschauplätzen natürlich auch der landschaftlich schönen Lage am Thüringer Wald. Ein besonderes Kleinod ist die zwischen 1862 und dem Ersten Weltkrieg entstandene, denkmalgeschützte Villenkolonie, die auch den Weg zur Wartburg säumt. Die kulturhistorisch wohl bedeutsamste Burg der Deutschen zählt seit 1999 zum Unesco-Welterbe.
Der Aufstieg vom Fuß der ReuterWagner-Villa im Helltal zum Elisabethplan wird aktuell von einem monumentalen Kunstwerk begleitet, bestehend aus 3333 großflächigen Gemälden mit Motiven aus dem Alten und Neuen Testament. 16 Jahre seines Lebens, von 1984 bis 2000, hat der Stuttgarter Maler, Bildhauer, Musiker, Komponist und Schriftsteller Willy Wiedmann daran gearbeitet, besessen von der Idee, die ganze Bibel in seine eigentümliche Bildsprache zu übersetzen. Am Ende hat er die 19 Leporellos in Kisten verpackt und auf dem Dachboden verstaut. Erst nach seinem Tod 2013 hat sein Sohn Martin Wiedmann sie wiederentdeckt und digitalisiert, um sie posthum als Wiedmann-Bibel der Welt bekannt zu machen. Inzwischen gibt es sie in einer limitierten
Prachtausgabe und auf DVD und hier wetterfest als „Eisenacher Pilgerbibel – Die längste Bibel der Welt“.
Jedenfalls vermag der Weg dank des Kunstwerks schon ein wenig einzustimmen auf die Begegnung mit Luther in der Wartburg. Zumindest in unserer Vorstellung sitzt er noch hier am Schreibtisch in der stilsicher rekonstruierten Arbeitsstube, obwohl es vielleicht doch ein Stehpult war, an dem der Reformator seit Mitte Dezember 1521 in nur elf Wochen das neue Testament aus dem griechischen
ANZEIGE Urtext übersetzte. Über alle Zweifel erhaben sind die Echtheit und Wirkmächtigkeit des hier erstandenen Werkes. Die sehenswerte Sonderausstellung „Luther übersetzt. Von der Macht der Worte.“belegt, wie er mit feinem Gespür für die Eigenheiten der zeitgenössischen deutschen Sprache und viel Verständnis für die einfache Bevölkerung eine kunstvolle, aber gut verständliche Übersetzung schuf, die auch regionale Grenzen überwand. Den Menschen die biblischen Botschaften
zu vermitteln, war sein zentrales Anliegen. Wie wichtig ihm dabei auch die Sprache der Musik war, lässt das Zitat aus einer Tischrede deutlich werden: „Die nothen machen den Text lebendig.“Luther brachte den Choral in den Gottesdienst und machte aus passiven Zuhörern singende Mitwirkende. Mehr als 30 Lieder stammen aus seiner Feder, darunter das zum Reformationslied avancierte „Ein’ feste Burg ist unser Gott“, das als Motiv auch Johann Sebastian Bachs gleichnamiger Choralkantate zu Grunde liegt, die nachweislich auch zu den Jubiläumsfeiern 1817 erklang.
Von eventuellen Feierlichkeiten im Jahr 1822 anlässlich des 300. Jahrestages von Luthers Übersetzung ist hier nichts überliefert. Immerhin war das sogenannte Septembertestament eine Art Bestseller geworden, nachdem es, noch bereichert um 21 Holzschnitte von Lucas Cranach, am 21. September 1522 rechtzeitig zur Herbstmesse erscheinen konnte. Die Auflage von 3000 Exemplaren war in kurzer Zeit vergriffen. Schon im Dezember folgte die zweite.
Weitere Informationen unter eisenach.info/500-Jahre-bibeluebersetzung-luther-2021-2022, eisenach.de, lutherhaus-eisenach.com, bachhaus.de, wartburg.de, klassik-stiftung.de/ wielandgut-ossmannstedt
Die Recherche wurde unterstützt von der Thüringer Tourismus GmbH, thueringen-entdecken.de
Im Themenjahr „Welt übersetzen“feiert die Klassik Stiftung Weimar noch ein weiteres Jubiläum: den 250. Jahrestag der Ankunft von Christoph Martin Wieland in Weimar. Wieland, in Biberach aufgewachsen, seit 1769 Professor der Philosophie in Erfurt, wurde 1772 von Herzogin Anna Amalia als Erzieher des Erbprinzen an den Weimarer Hof berufen. Mit Goethe, Schiller und Herder gehörte er zum Viergestirn der Weimarer Klassik, war Shakespeare-Übersetzer und der bedeutendste Schriftsteller seiner Zeit. Die sehenswerte neue Dauerausstellung „Der erste Schriftsteller Deutschlands“im Wielandgut Oßmannstedt ist ganz besonders auch als Ziel einer entspannten Fahrradtour sehr zu empfehlen.
Unbedingt mitbringen
Im Museumsshop des Eisenacher Bachhauses gibt es die CD „Willst du mein Herz mir schenken…“zu kaufen. Die Stücke stammen aus dem „Clavierbüchlein für Anna Magdalena Bach“, eingespielt wurden sie auf originalen Instrumenten aus dem 18. Jahrhundert. (cpö)