Flicks ungewisser Weg in die Wüste
Mit dem Spiel gegen Ungarn beginnt für den Bundestrainer die heiße Phase vor der WM
- Das muss er also sein, dieser WM-Zug, von dem man so gerne spricht. Natürlich führen keine Schienen bis ins Emirat Katar, in dem die Fortbewegung per Bahn eine weniger gepflegte Tradition ist. Umso symbolhafter die Wahl des DFB, diesmal von Frankfurt am Main nach Leipzig per Zug zu reisen. Rund 300 Kilometer – macht drei Stunden für die Nationalelf-Delegation. Im September 2020 war man rund 180 Kilometer Luftlinie von Stuttgart nach Basel noch in Chartermaschinen geflogen, inklusive heftiger Turbulenzen: ein Shitstorm. In Sachen Nachhaltigkeit hat man seine Lektion gelernt beim DFB.
„Ich bin schon sehr oft Zug gefahren, das ist nichts Neues für mich“, meinte Bundestrainer Hansi Flick, der auf diese Weise meist in die Bundesliga-Stadien reist, um seine Nationalelf-Kandidaten zu begutachten. „Ich fahre sehr gerne mit der Bahn, das ist völlig okay. In den zwei, drei Stunden Fahrt kann man schön zusammensitzen und gut was erledigen“, sagte auch Gladbachs Jonas Hofmann. Auf den WM-Zug musste auch keiner der Nationalspieler aufspringen am Frankfurter Hauptbahnhof. Zumindest für die Anreise zum Nations-League-Spiel am Freitag gegen Ungarn in Leipzig (20.45 Uhr, ZDF live) waren Sitzplatzkarten in der Ersten Klasse reserviert. Ohne die Corona-infizierten Manuel Neuer und Leon Goretzka sowie Julian Brandt (grippaler Infekt) sowie den Schon-Wieder-Ausfall Marco Reus (Außenbandverletzung am Sprunggelenk) ging es nach Sachsen zur ersten von zwei Generalproben für die Winter-WM in Katar. Nach dem Ungarn-Heimspiel und der Aufgabe am Montag im Londoner Wembleystadion gegen Gastgeber England muss Flick im November seinen Kader nominieren. Ungewöhnliche (Saison-) Zeiten, ungewöhnliche Abläufe.
Wegen des engen Terminplans in den kommenden Fast-Nur-Englischen-Wochen bis zur Abreise des DFB-Kaders ins WM-Kurztrainingslager im Oman (14. November) ließ Flick das Nachmittagstraining am Mittwoch ausfallen, „weil die Mannschaft noch mal einen Nachmittag Regeneration benötigt hat. Ansonsten lag der Fokus auf der Defensive und auf dem Standardtraining.“Auch außerhalb des Platzes nahm man thematisch volle Fahrt auf Richtung WM, denn ab dem Gruppenauftakt in Katar gegen Japan (23.11.) müsse die Mannschaft „in den Turniermodus reingehen und von Anfang an da sein“, so die Vorgabe des 57-Jährigen. Daher sind „auch die Meetings enorm wichtig, dass die Spieler alle eingebunden werden und Feedback geben können“, erklärte Flick vor der Abfahrt.
Es ist eine Reise ins Ungewisse – nein, nicht wegen der Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn, die hin und wieder vorkommen soll. Nein, der Trip ins Wüstenemirat stellt alle Nationen vor neue Herausforderungen. Doch Flick ist ein Trainer, der schon während der ersten Welle der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 gezeigt hat, dass er ein Meister im Entwickeln von Strategien für Plan B und Plan C ist. Im August 2020 gewannen die Bayern unter Cheftrainer Flick das für alle Teams im neuen Format ausgetragene Final-8-Turnier der Champions League in Lissabon.
Der gebürtige Heidelberger ist Pragmatiker. Einer der agiert, schnell reagiert, aber nicht lamentiert. Zu den aktuellen zwei Corona-Ausfällen meinte Flick cool: „Solche Fälle sind immer ärgerlich, aber es ist ja auch eine normale Situation geworden. Bei einer normalen Grippe fällt man auch aus, Covid ist natürlich noch etwas aggressiver.“Ob die Spieler dann im November ihr Verhalten ändern müssen? Gibt es einen Anti-Corona-Knigge? „Es ist nicht ganz so einfach, wie man sich verhalten soll. Wir vom Trainerteam sind auch viel unterwegs“, sagte Flick und betonte: „Natürlich muss man vor der WM seine Kontakte etwas reduzieren und überlegen, gehe ich jetzt dahin oder nicht. Es soll aber auch weitergehen im Leben. Eine gewisse Normalität mit gesundem Menschenverstand
ist, glaube ich, der richtige Weg.“
Seine ehemaligen, aktuell kriselnden Bayern-Profis um Thomas Müller wieder in die Spur zu bringen, damit ein selbstbewusster Block das DFB-Gerüst bilden kann, erscheint machbar für Flick, dessen menschliche und nahbare Art die Spieler schätzen. „Die Spieler haben eine sehr hohe Eigenmotivation, aus dieser Situation wieder herauszukommen“, nahm er sie in die Pflicht und stellte klar: „Sie wollen ihre Leistungen abrufen für Deutschland, aber sie werden auch motiviert sein, wieder mit dem FC Bayern in die richtige Spur zurückzukommen. Die Qualität dazu haben sie.“Dass die Nationalelf seit dem Karriereende von Miroslav Klose ohne echten Mittelstürmer auskommen muss, nimmt Flick hin – und sucht Lösungen. „Wir haben eine klare Idee, wie wir Fußball spielen wollten“, sagte er – und verwies auf Leipzig-Rückkehrer Timo Werner: „Timo hat bei uns gezeigt, dass er sehr torgefährlich ist. Wir haben aber noch Luft nach oben.“RB-Star Werner, das scheint sicher, darf ran bei seinem Heimspiel.
Ab Freitag wird sich zeigen, ob Flicks Weichenstellungen die richtigen sind für sein erstes Turnier als Chef. Beim WM-Triumph 2014 in Brasilien war er unter Joachim Löw der Co-Pilot. Aber deren Job ist es ja meist, die Maschine zu fliegen.