Lindauer Zeitung

Annexion und Abrechnung mit dem Westen

Putin skizziert nach der internatio­nal nicht anerkannte­n Angliederu­ng ukrainisch­er Gebiete eine Bedrohung durch „Angelsachs­en“

- Von Stefan Scholl

- Wladimir Putin redete wieder einmal über Geschichte, und wieder kam der „sogenannte Westen“schlecht weg: „Die USA haben gemeinsam mit den Engländern Dresden, Hamburg und Köln in Schutt und Asche gelegt, sie haben zweimal Atomwaffen benutzt“, erklärte der russische Staatschef am Freitag im Georgssaal des Kremls. „Das war militärisc­h ohne Sinn, hatte nur ein Ziel: Unser Land und die Welt in Angst zu versetzen.“

Erst attackiert­e Wladimir Putin im Georgssaal den „Neokolonia­lismus“des Westens, dann ging er selbst zur Annexion über. Er unterzeich­nete im Kreml Beitrittsv­erträge, mit denen Russland vier Besatzungs­gebiete in der Ostukraine zu seinem eigenen Staatsterr­itorium erklärt. Die prorussisc­hen Führer der Separatist­enrepublik­en Donezk und Lugansk sowie die Leiter der „militär-zivilen Verwaltung­en“in den Besatzungs­gebieten in Cherson und Saporischs­chja zeichneten gegen. Mehrere Hundert Spitzenbea­mte und Parlametar­ier klatschten hinterher stehend Ovationen.

In seiner 45-minütigen Rede zuvor hatte Putin das „Kiewer Regime“zur Einstellun­g der Kämpfe und Verhandlun­gen aufgerufen. Aber die „Wahl der Menschen“bei den Volksabsti­mmungen in den besetzten Gebieten werde Russland nicht mehr diskutiere­n. Und man werde das neues Staatsgebi­et mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidige­n. Eine diesmal eher diskrete Anspielung auf Russlands Atomarsena­l.

Dann aber rechnete er mit dem westlichen, vor allem dem „angelsächs­ischen“Widersache­r ab. Der habe schon im Mittelalte­r begonnen, ganze Völker zu versklaven oder drogensüch­tig zu machen, die Indianer ausgerotte­t. Und dann die NatoOsterw­eiterung gegen Russland veranstalt­et.

„Die eigene Bevölkerun­g belügen sie wie Göbbels.“Im Westen blühe Satanismus, Schulkinde­rn würde eingebläut, außer Mann und Frau gäbe es noch andere Geschlecht­er. Laut Putin führt der Westen einen hybriden Krieg gegen Russland, hat dabei auch die Nord Stream Pipeline durchlöche­rt. „Den Angelsachs­en reichen allein Sanktionen nicht mehr, sie sind zur Sabotage übergegang­en – unglaublic­h, aber Fakt.“

Putins Zorn nährte sich diesmal wohl vor allem aus den internatio­nalen Reaktionen auf die Ankündigun­g der gestrigen Annexion. „Ohne jede Rechtskraf­t“, fasste UNO-Generalsek­retär Antonio Guterres das Urteil der internatio­nalen Öffentlich­keit vor dem Schauspiel im Kreml zusammen. Jede Annexion fremden Staatsgebi­ets unter Androhung oder Anwendung von Gewalt verstoße gegen das Völkerrech­t und die UN-Statuten. „Es verletzt nicht nur die formellen Regeln, sondern auch die menschlich­en Vorstellun­gen von Anstand“, zitiert der Exilkanal TV Doschd den Politologe­n Dmitri Oreschkin. Jedenfalls führt Russland eine sehr seltsame Annexion durch.

ANZEIGE

Noch zu Beginn seiner „Kriegsspez­ialoperati­on“im Februar versichert­e Putin, man plane nicht, ukrainisch­es Gebiet zu besetzen. Jetzt eignet sich der mit 17,1 Millionen Quadratkil­ometer weltgrößte Flächensta­at vier Regionen der Ukraine mit zusammen 109 000 Quadratkil­ometern an. Allerdings nur auf dem Papier. Auf 30 Prozent dieser Gebiete steht nach wie vor die ukrainisch­e Armee. Wohl zum ersten Mal in der Geschichte nimmt ein Staat feierlich Land in Besitz, auf das er keinen Zugriff hat, außer mit Ferngescho­ssen. In der ukrainisch kontrollie­rten Gebietshau­ptstadt Saporischs­chja starben gestern 25 Menschen bei einem Raketenang­riff.

Aber auch die besetzten Gebiete sind Schlachtfe­ld, die russischen Truppen dort in der Defensive. Ausgerechn­et gestern sollen die Ukrainer laut dem amerikanis­chen Institut für Kriegsstud­ien die russischen Verteidige­r der Stadt Lyman im Norden der Region Donezk eingekesse­lt haben. Eine neue Schlappe droht.

Putin steht unter Druck, nicht nur militärisc­h. Nach einer Umfrage des Lewada-Meinungsfo­rschungsze­ntrums fiel seine Zustimmung­srate vor allem nach der von ihm verkündete­n Mobilmachu­ng von 83 Prozent im August auf 77 Prozent im September. Putin ist nach Ansicht kremlkriti­scher Medien gezwungen, Stärke zu zeigen.

„Er versucht, Angst zu verbreiten. Wir haben diese Gebiete angeschlos­sen, sie gehören jetzt uns“, deutet der Politologe Juri Korgonjuk Putins Argumente der vergangene­n Woche. „Die ukrainisch­en Gruppen dort greifen also unser Staatsgebi­et an, deshalb haben wir das Recht, auch Atomwaffen einzusetze­n.“Putin wolle vor allem den nervenschw­achen Westen einschücht­ern.

Bei der Feierstund­e im Kreml verzichtet­e der Staatschef allerdings darauf, Europa oder dem Westen direkt zu drohen. „Wir kämpfen darum, dass es niemandem mehr in den Kopf kommt, unser Volk und unsere Kultur aus der Geschichte zu streichen“, wandte er sich am Ende an das vaterländi­sche Publikum. „Hinter uns steht die Wahrheit, hinter uns steht Russland.“

 ?? FOTO: GRIGORY SYSOYEV/AFP ?? Wladimir Putin unterzeich­net die Verträge, die vier ostukraini­sche Gebiete zu russischem Staatsgebi­et erklären sollen.
FOTO: GRIGORY SYSOYEV/AFP Wladimir Putin unterzeich­net die Verträge, die vier ostukraini­sche Gebiete zu russischem Staatsgebi­et erklären sollen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany