Annexion und Abrechnung mit dem Westen
Putin skizziert nach der international nicht anerkannten Angliederung ukrainischer Gebiete eine Bedrohung durch „Angelsachsen“
- Wladimir Putin redete wieder einmal über Geschichte, und wieder kam der „sogenannte Westen“schlecht weg: „Die USA haben gemeinsam mit den Engländern Dresden, Hamburg und Köln in Schutt und Asche gelegt, sie haben zweimal Atomwaffen benutzt“, erklärte der russische Staatschef am Freitag im Georgssaal des Kremls. „Das war militärisch ohne Sinn, hatte nur ein Ziel: Unser Land und die Welt in Angst zu versetzen.“
Erst attackierte Wladimir Putin im Georgssaal den „Neokolonialismus“des Westens, dann ging er selbst zur Annexion über. Er unterzeichnete im Kreml Beitrittsverträge, mit denen Russland vier Besatzungsgebiete in der Ostukraine zu seinem eigenen Staatsterritorium erklärt. Die prorussischen Führer der Separatistenrepubliken Donezk und Lugansk sowie die Leiter der „militär-zivilen Verwaltungen“in den Besatzungsgebieten in Cherson und Saporischschja zeichneten gegen. Mehrere Hundert Spitzenbeamte und Parlametarier klatschten hinterher stehend Ovationen.
In seiner 45-minütigen Rede zuvor hatte Putin das „Kiewer Regime“zur Einstellung der Kämpfe und Verhandlungen aufgerufen. Aber die „Wahl der Menschen“bei den Volksabstimmungen in den besetzten Gebieten werde Russland nicht mehr diskutieren. Und man werde das neues Staatsgebiet mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen. Eine diesmal eher diskrete Anspielung auf Russlands Atomarsenal.
Dann aber rechnete er mit dem westlichen, vor allem dem „angelsächsischen“Widersacher ab. Der habe schon im Mittelalter begonnen, ganze Völker zu versklaven oder drogensüchtig zu machen, die Indianer ausgerottet. Und dann die NatoOsterweiterung gegen Russland veranstaltet.
„Die eigene Bevölkerung belügen sie wie Göbbels.“Im Westen blühe Satanismus, Schulkindern würde eingebläut, außer Mann und Frau gäbe es noch andere Geschlechter. Laut Putin führt der Westen einen hybriden Krieg gegen Russland, hat dabei auch die Nord Stream Pipeline durchlöchert. „Den Angelsachsen reichen allein Sanktionen nicht mehr, sie sind zur Sabotage übergegangen – unglaublich, aber Fakt.“
Putins Zorn nährte sich diesmal wohl vor allem aus den internationalen Reaktionen auf die Ankündigung der gestrigen Annexion. „Ohne jede Rechtskraft“, fasste UNO-Generalsekretär Antonio Guterres das Urteil der internationalen Öffentlichkeit vor dem Schauspiel im Kreml zusammen. Jede Annexion fremden Staatsgebiets unter Androhung oder Anwendung von Gewalt verstoße gegen das Völkerrecht und die UN-Statuten. „Es verletzt nicht nur die formellen Regeln, sondern auch die menschlichen Vorstellungen von Anstand“, zitiert der Exilkanal TV Doschd den Politologen Dmitri Oreschkin. Jedenfalls führt Russland eine sehr seltsame Annexion durch.
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Noch zu Beginn seiner „Kriegsspezialoperation“im Februar versicherte Putin, man plane nicht, ukrainisches Gebiet zu besetzen. Jetzt eignet sich der mit 17,1 Millionen Quadratkilometer weltgrößte Flächenstaat vier Regionen der Ukraine mit zusammen 109 000 Quadratkilometern an. Allerdings nur auf dem Papier. Auf 30 Prozent dieser Gebiete steht nach wie vor die ukrainische Armee. Wohl zum ersten Mal in der Geschichte nimmt ein Staat feierlich Land in Besitz, auf das er keinen Zugriff hat, außer mit Ferngeschossen. In der ukrainisch kontrollierten Gebietshauptstadt Saporischschja starben gestern 25 Menschen bei einem Raketenangriff.
Aber auch die besetzten Gebiete sind Schlachtfeld, die russischen Truppen dort in der Defensive. Ausgerechnet gestern sollen die Ukrainer laut dem amerikanischen Institut für Kriegsstudien die russischen Verteidiger der Stadt Lyman im Norden der Region Donezk eingekesselt haben. Eine neue Schlappe droht.
Putin steht unter Druck, nicht nur militärisch. Nach einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungszentrums fiel seine Zustimmungsrate vor allem nach der von ihm verkündeten Mobilmachung von 83 Prozent im August auf 77 Prozent im September. Putin ist nach Ansicht kremlkritischer Medien gezwungen, Stärke zu zeigen.
„Er versucht, Angst zu verbreiten. Wir haben diese Gebiete angeschlossen, sie gehören jetzt uns“, deutet der Politologe Juri Korgonjuk Putins Argumente der vergangenen Woche. „Die ukrainischen Gruppen dort greifen also unser Staatsgebiet an, deshalb haben wir das Recht, auch Atomwaffen einzusetzen.“Putin wolle vor allem den nervenschwachen Westen einschüchtern.
Bei der Feierstunde im Kreml verzichtete der Staatschef allerdings darauf, Europa oder dem Westen direkt zu drohen. „Wir kämpfen darum, dass es niemandem mehr in den Kopf kommt, unser Volk und unsere Kultur aus der Geschichte zu streichen“, wandte er sich am Ende an das vaterländische Publikum. „Hinter uns steht die Wahrheit, hinter uns steht Russland.“