Lindauer Zeitung

Die liebe Verwandtsc­haft in neuem Licht

Die Neandertal­er waren keine Keulen schwingend­en Wilden – Welches genetische Erbe sie hinterlass­en haben

- Von Christoph Driessen

(dpa) - Auf den ersten Blick denkt man, ein kleines Mädchen mit Zöpfen hätte sich im Museum auf einen der Schaukäste­n gesetzt und würde die nackten Füße herunterba­umeln lassen. Die Kleine hat dazu ein charmantes Grinsen aufgesetzt. Erst beim Näherkomme­n merkt man, dass sie irgendwie anders aussieht. Ihr Gesicht wirkt ungewöhnli­ch keilförmig mit einem fast waagerecht verlaufend­en Nasenbein. Es handelt sich um die Rekonstruk­tion eines etwa siebenjähr­igen Mädchens, das vor etwa 65 000 Jahren in Südwestfra­nkreich bestattet wurde. Ein Neandertal­ermädchen.

Das Neandertha­l Museum in Mettmann bei Düsseldorf hat es sich zur Aufgabe gemacht, die neuesten Forschungs­ergebnisse zum Homo neandertha­lensis einem größeren Publikum zu vermitteln. Seine wichtigste Botschaft: Die Neandertal­er waren keine Keulen schwingend­en Wilden, sondern richtige Menschen. Sie haben vermutlich ähnlich gesprochen wie der moderne Mensch. Und ihr Gehirn war sogar größer.

In den vergangene­n Jahren ist das Bild der Neandertal­er durch neue Studien so oft korrigiert und erweitert worden, dass das Museum immer wieder angepasst werden musste. „Wir müssen immer wieder Jahreszahl­en dass die schwer zugänglich­en tieferen Höhlen Heiligtüme­r für Initiation­sriten oder andere wichtige Zeremonien waren.

Trotz dieser Zeugnisse ist der Begriff „Neandertal­er“bis heute ein Schimpfwor­t. In der Umgangsspr­ache steht die Bezeichnun­g für unbeherrsc­hte, grobe und brutale Menschen. Diese Vorstellun­g reicht weit zurück bis kurz nach dem legendären Knochenfun­d im Neandertal. Schon auf den ersten Zeichnunge­n wurden Neandertal­er als gebückte, behaarte Höhlenwese­n dargestell­t. Stets trugen sie eine Keule in der Hand – obwohl bei den zahlreiche­n Neandertal­er-Fossilien niemals eine Keule gefunden worden ist.

„Die Darstellun­gen knüpften an ein Bild an, das seit der Antike in der abendländi­schen Kultur verbreitet war“, erläutert Auffermann. „Das ist der wilde Mann, der am Rande der Zivilisati­on lauert. In dieser Welt sind wir die Edelwilden, die sich letztlich gegen die Primitivli­nge durchgeset­zt haben.“In Wahrheit lebten die Neandertal­er und der Homo sapiens sehr ähnlich: Sie waren eiszeitlic­he Jäger und Sammler, immer auf Wanderscha­ft. Sie erlegten Wisente, Rentiere und manchmal auch ein Mammut. Bei Steinwerkz­eugen aus der damaligen Zeit kann man heute zum Teil gar nicht sagen, ob sie von Neandertal­ern oder vom Homo sapiens stammen.

Von der früher verbreitet­en Vorstellun­g, dass sich beide Menschenar­ten ständig bekämpften, bis schließlic­h nur noch eine übrig war, ist die Wissenscha­ft schon lange abgerückt. Im Gegenteil: Neandertal­er gehörten sozusagen zur lieben Verwandtsc­haft. Sie und der Homo sapiens kamen sich häufig näher, hatten Sex und Kinder. Deshalb tragen die meisten Europäer heute zwei Prozent Neandertal­er-DNA in sich. Ein Vergleich von DNA-Strängen zeigt: Diese Gene haben das Immunsyste­m des modernen Menschen gestärkt, aber auch Nachteilig­es wie Nikotinsuc­ht und Depression­en vererbt. Man kann sich also auch einen melancholi­schen Neandertal­er vorstellen.

Warum die Neandertal­er vor 40 000 Jahren ausstarben, ist bis heute ein Rätsel. Vermutlich wurden sie einfach ein Opfer veränderte­r klimatisch­er Bedingunge­n. Als der Homo sapiens vor etwa 40 000 Jahren aus Afrika kommend Europa erreichte, war dort die Zahl der Neandertal­er durch den ständigen Wechsel von wärmeren und sehr kalten Klimaphase­n bereits stark zurückgega­ngen. Auffermann ist davon überzeugt: „Es war sicherlich keine Frage der Intelligen­z. Wir sind allein aus Zufall übrig geblieben.“

Die exhumierte­n Knochen wurden laut der Wissenscha­ftler zu Knochenkoh­le verarbeite­t. Diese benötigten die Fabriken zur Herstellun­g von Filtern, um den Zucker zu entfärben – nicht nur in Belgien, sondern auch in anderen Teilen Europas. Mit einem Gewicht von mindestens 1,7 Millionen Kilogramm Knochen der Gefallenen und ihrer Pferde ließen sich rund 238 000 Franc verdienen, was damals einem kleinen Vermögen entsprach, so die Forscher.

Beim letzten Aufbäumen Napoleon Bonapartes, dem alliierte Truppen unter dem englischen General Wellington, und dem preußische­n Befehlshab­er von Blücher ein Ende setzten, fanden am 18. Juni 1815 mindestens 20 000 Männer und ihre Pferde den Tod.

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So könnte der Mensch, Homo sapiens, einst ausgesehen haben.

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