Filmreife Szenen am Kassenband
Seit etwa einem Monat gibt es im Edeka Abröll-Groiß in Buxheim eine Ratschkasse.
BUXHEIM - Viele Kundinnen und Kunden merken erst in letzter Sekunde, wo sie da gelandet sind. „Und, wie geht es uns heute?“, fragt Elli Nosha beinahe alle, die an ihrer Kasse eifrig Erdbeeren, Magazine und Tütensuppen vom Band in die Tasche packen. Was dann folgt, geschieht ausnahmslos in derselben Abfolge: ein kurzes Zögern beim Eintüten, ein verdutzter Blick. Dann wandern die Augen nach rechts, links, oben – ah! „Ich bin an der Ratschkasse gelandet, oder?“Diese Frage fällt im Edeka Abröll-Groiß in Buxheim an diesem Vormittag mehr als einmal. Ein weiteres Lächeln von Nosha: „Richtig!“
Ende April hat der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) die Ratschkasse in Buxheim eröffnet. Damit beherbergt der Edeka Abröll-Groiß einen bayernweiten Präventionsschwerpunkt gegen Einsamkeit. Das Projekt soll bis Juli andauern und den Supermarkt „als Ort der sozialen Begegnung“fördern, wie Holetschek bei der Eröffnung sagte. Was ist seitdem passiert? „Wir haben einen regelrechten Medienrummel erlebt, damit haben wir nicht gerechnet“, sagt Edeka-Betreiberin Ilka Abröll-Groiß. Das Fernsehen und überregionalen Tageszeitungen
– viele berichteten über die Ratschkasse. Dadurch seien einige Kunden auf den Supermarkt in Buxheim aufmerksam geworden. Die Reaktionen waren laut Abröll-Groiß „durchwegs positiv“– auch von Stammkunden. Ob die Ratschkasse nach der Testphase weiterhin bestehen bleibt, kann die Betreiberin nicht abschätzen. „Das besprechen Holetschek und wir dann Ende Juli.“Aktuell überlege sie sich, vor dem Supermarkt eine „Ratschbank“aufzustellen.
Zurück bei Elli Nosha wird über die Erdbeerzeit und den wechselhaften Mix aus Sonne und Regen diskutiert. „Über das Wetter rede ich während meiner Schicht bestimmt 20 bis 30 Mal“, sagt die stellvertretende Marktleiterin und lacht. Immer montags bis donnerstags von 9 bis 11 Uhr ist die Ratschkasse in Buxheim geöffnet – und in diesen zwei Stunden kann so einiges passieren. „Einmal behauptete an meiner Kasse ein junger Typ, er könne jonglieren“, erzählt Nosha, „und ich konterte, dass ich ihm nicht glaube.“Was dann geschah, sei filmreif gewesen: Der Mann nahm sich laut Nosha mehrere Orangen aus der Obstabteilung und begann zu jonglieren. „Heruntergefallen ist ihm keine.“
Für Nosha gibt es aber auch emotionale Begegnungen: „Eine meiner regelmäßigen Kundinnen ist seit Jahren Witwe. Sie ist richtig froh, mit den Gedanken mal nicht bei Verstorbenen zu sein und mit jemandem reden zu können.“Ab und zu ist es für die junge Frau schwer, zu sehen, wie einsam viele Menschen sind.
Laut Landratsamt Unterallgäu litten 2017 etwa 30 Prozent der bayerischen Bevölkerung manchmal unter sehr starken Einsamkeitsgefühlen. Zwei deutsche Forschungsinstitute
zeigten zudem, dass Einsamkeit in allen Bevölkerungsgruppen während des Lockdowns im Frühjahr 2020 stark zugenommen hat. Im Vergleich zu Zeiten vor der Pandemie waren Frauen und junge Personen besonders betroffen.
Bei Elli Nosha darf die Kundschaft so lange ratschen, wie sie möchte. „Wenn es andere eilig haben, dann öffnen wir eine zweite Kasse, kein Problem“, sagt Nosha. Birgit Ludwig ist mit ihrem Sohn unterwegs und kauft zwei Blumensträuße, schnell gehen muss es bei ihr nicht. „So etwas ist doch schön“, findet Nosha. Sie liebt es, sich für ihre Kundschaft Zeit zu nehmen und zuzuhören – auch wenn sie viele Menschen bei dem freundlich einstudierten „Wie geht es Ihnen heute?“erst kritisch beäugen. „Aber das Lächeln danach ist es wert“, sagt Nosha und begrüßt den nächsten Kunden.