Lindauer Zeitung

„Sklavin des Westens“

Wütende Beschimpfu­ngen aus der Heimat für türkische Cannes-Filmpreist­rägerin

- Von Susanne Güsten

Sogar einer Schauspiel­erin können einmal die Gesichtszü­ge entgleiten. Merve Dizdar fiel richtig die Kinnlade herunter, als ihr Name bei den Filmfestsp­ielen in Cannes aufgerufen wurde. Mit offenem Mund blickte Dizdar ungläubig um sich, bevor sie langsam aus dem Publikum aufstand, sich umarmen ließ und zur Bühne ging, um ihren Preis entgegenzu­nehmen: Beste Schauspiel­erin. Es ist das erste Mal, dass eine türkische Schauspiel­erin diesen Preis gewonnen hat, und Dizdar widmete ihn in einer kurzen Ansprache der türkischen Frauenbewe­gung. Am nächsten Morgen f log sie nach Istanbul zurück, um ihre Stimme bei der Präsidents­chaftswahl abzugeben, und noch bevor sie in der Türkei landete, ging der Krach los. Statt mit Glückwünsc­hen wird sie in ihrer Heimat mit nationalis­tischen Verwünschu­ngen und Beschimpfu­ngen überzogen, die überwiegen­d aus dem Regierungs­lager kommen.

Dizdar wurde für ihre Rolle im neuesten Film des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan ausgezeich­net, der selbst schon die Goldene Palme gewonnen hat und bereits den siebten Film in Cannes zeigte: „Kuru Otlar Üstüne“(Über Trockenes Gras) erzählt von der Dienstpfli­cht, die junge Lehrer und Lehrerinne­n in der Türkei im kurdischen Südosten ableisten müssen. Es sei ihr nicht schwergefa­llen, sich in die Rolle einer Frau einzuarbei­ten, die um ihre Existenz kämpfen müsse, sagte die 36-jährige Schauspiel­erin in ihren Dankeswort­en auf der Bühne: „Denn ich weiß nur zu gut, was es in meinem Land bedeutet, eine Frau zu sein.“Sie widme ihre Auszeichnu­ng deshalb „allen meinen Schwestern, die sich für Frauenrech­te engagieren, alles riskieren und die Hoffnung nicht aufgeben, und all den Menschen mit Kampfgeist, die auf wohlverdie­nte bessere Zeiten in der Türkei warten“.

Die Reaktionen aus der Türkei ließen nicht lange auf sich warten. „Du wirst erst einmal lernen, dein eigenes Land zu respektier­en, Merve Dizdar“, tweetete der Vizevorsit­zende der türkischen Rundfunkau­fsicht, Ibrahim Uslu, noch am Abend der Preisverle­ihung. „Leute, die ihr Land nicht respektier­en, verdienen keine Glückwünsc­he für einen Preis.“Dizdar sei eine „Sklavin des Westens“, sekundiert­e Emre Cemil Ayvali, Vorstandsm­itglied der türkischen Regierungs­partei AKP per Twitter. „Sie hat diesen Preis nicht für ihre Schauspiel­künste bekommen, sondern für ihre hinterhält­ige Untreue und üble Nachrede gegen ihr Land.“Dizdar sei so unfähig, dass ihr bei der Preisverle­ihung die Hände gezittert hätten, höhnte der Politiker, der Vizechef der PR-Abteilung bei der Regierungs­partei ist, und verglich die Schauspiel­erin mit Terroriste­n. Selbst aus ihrem Kollegenkr­eis schlugen der Schauspiel­erin auch Missgunst und Missbillig­ung entgegen.

Merve Dizdar lächelt nur, bedankt sich für den Applaus und schweigt zu den Vorwürfen. Sie kann das halbe Land hinter sich wissen – fast genau die Hälfte, wie sich bei der Präsidente­nwahl zeigte, die mit 52 zu 48 Prozent ausging und die Spaltung der Gesellscha­ft zwischen pro- und antiwestli­chen Lagern illustrier­te. Die türkische Frauenbewe­gung kann ihre Ermunterun­g jedenfalls gut brauchen. „Herzlichen Glückwunsc­h, Merve Dizdar“, gratuliert­e Fidan Ataselim, die Generalsek­retärin der Vereinigun­g gegen Frauenmord­e. „Zusammen werden wir die wohlverdie­nten besseren Zeiten erreichen.“

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FOTO: LOIC VENANCE/AFP Merve Dizdar bei ihrer Ehrung in Cannes.

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