„Sklavin des Westens“
Wütende Beschimpfungen aus der Heimat für türkische Cannes-Filmpreisträgerin
Sogar einer Schauspielerin können einmal die Gesichtszüge entgleiten. Merve Dizdar fiel richtig die Kinnlade herunter, als ihr Name bei den Filmfestspielen in Cannes aufgerufen wurde. Mit offenem Mund blickte Dizdar ungläubig um sich, bevor sie langsam aus dem Publikum aufstand, sich umarmen ließ und zur Bühne ging, um ihren Preis entgegenzunehmen: Beste Schauspielerin. Es ist das erste Mal, dass eine türkische Schauspielerin diesen Preis gewonnen hat, und Dizdar widmete ihn in einer kurzen Ansprache der türkischen Frauenbewegung. Am nächsten Morgen f log sie nach Istanbul zurück, um ihre Stimme bei der Präsidentschaftswahl abzugeben, und noch bevor sie in der Türkei landete, ging der Krach los. Statt mit Glückwünschen wird sie in ihrer Heimat mit nationalistischen Verwünschungen und Beschimpfungen überzogen, die überwiegend aus dem Regierungslager kommen.
Dizdar wurde für ihre Rolle im neuesten Film des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan ausgezeichnet, der selbst schon die Goldene Palme gewonnen hat und bereits den siebten Film in Cannes zeigte: „Kuru Otlar Üstüne“(Über Trockenes Gras) erzählt von der Dienstpflicht, die junge Lehrer und Lehrerinnen in der Türkei im kurdischen Südosten ableisten müssen. Es sei ihr nicht schwergefallen, sich in die Rolle einer Frau einzuarbeiten, die um ihre Existenz kämpfen müsse, sagte die 36-jährige Schauspielerin in ihren Dankesworten auf der Bühne: „Denn ich weiß nur zu gut, was es in meinem Land bedeutet, eine Frau zu sein.“Sie widme ihre Auszeichnung deshalb „allen meinen Schwestern, die sich für Frauenrechte engagieren, alles riskieren und die Hoffnung nicht aufgeben, und all den Menschen mit Kampfgeist, die auf wohlverdiente bessere Zeiten in der Türkei warten“.
Die Reaktionen aus der Türkei ließen nicht lange auf sich warten. „Du wirst erst einmal lernen, dein eigenes Land zu respektieren, Merve Dizdar“, tweetete der Vizevorsitzende der türkischen Rundfunkaufsicht, Ibrahim Uslu, noch am Abend der Preisverleihung. „Leute, die ihr Land nicht respektieren, verdienen keine Glückwünsche für einen Preis.“Dizdar sei eine „Sklavin des Westens“, sekundierte Emre Cemil Ayvali, Vorstandsmitglied der türkischen Regierungspartei AKP per Twitter. „Sie hat diesen Preis nicht für ihre Schauspielkünste bekommen, sondern für ihre hinterhältige Untreue und üble Nachrede gegen ihr Land.“Dizdar sei so unfähig, dass ihr bei der Preisverleihung die Hände gezittert hätten, höhnte der Politiker, der Vizechef der PR-Abteilung bei der Regierungspartei ist, und verglich die Schauspielerin mit Terroristen. Selbst aus ihrem Kollegenkreis schlugen der Schauspielerin auch Missgunst und Missbilligung entgegen.
Merve Dizdar lächelt nur, bedankt sich für den Applaus und schweigt zu den Vorwürfen. Sie kann das halbe Land hinter sich wissen – fast genau die Hälfte, wie sich bei der Präsidentenwahl zeigte, die mit 52 zu 48 Prozent ausging und die Spaltung der Gesellschaft zwischen pro- und antiwestlichen Lagern illustrierte. Die türkische Frauenbewegung kann ihre Ermunterung jedenfalls gut brauchen. „Herzlichen Glückwunsch, Merve Dizdar“, gratulierte Fidan Ataselim, die Generalsekretärin der Vereinigung gegen Frauenmorde. „Zusammen werden wir die wohlverdienten besseren Zeiten erreichen.“