Ulmer General bereitet Truppenverlegung der Nato vor
Streitkräfte schnell verlagern und durchhaltefähig versorgen – Gipfel informiert sich über Arbeit des Kommandos in der Donaustadt
ULM - Beim Nato-Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius am 11. und 12. Juli werden die Teilnehmer auch über die aktuellen Pläne des Bündnisses zur Abschreckung potenzieller Gegner diskutieren. Das Ulmer NatoKommando „Joint Support and Enabling Command“(JSEC) hat an diesen Plänen mitgewirkt: „Glaubwürdige Abschreckung und wirksame Verteidigung erfordern die Fähigkeit, Streitkräfte schnell verlegen und durchhaltefähig versorgen zu können“, sagt der Befehlshaber des Kommandos, Generalleutnant Alexander Sollfrank (Foto: Ludger Möllers), „und diese Fähigkeit kann die Nato am Gipfel präsentieren.“Im Dienstzimmer des Generals, der seit 2022 in der Ulmer Wilhelmsburg-Kaserne tätig ist, hängt eine große Europa-Karte: Deutlich markiert sind Österreich und die Schweiz, diese beiden neutralen Staaten gehören ebenso wie Serbien nicht zur Nato.
Folglich müssen Streitkräfte des Bündnisses, die beispielsweise von Italien nach Polen oder in die baltischen Staaten verlegt werden sollen, auf ihrem Weg um Österreich und die Schweiz herumgeführt werden: Nur eine von vielen Herausforderungen, die das Team des Generals im JSEC beachten muss.
Seit zwei Jahren ist der international besetzte Stab, der direkt dem Nato-Oberbefehlshaber in Europa unterstellt ist, für die Koordination von Truppen- und Materialtransporten im Bündnisfall zuständig. Und dies zu Wasser, zu Land und in der Luft, denn „Joint“im Titel des Kommandos steht für die Fähigkeit, Heeres-, Luftwaffenund Marinestreitkräfte gemeinsam zu unterstützen und zu beraten. Sollfrank definiert die Aufgabe in einem Satz: „Unterstützung der Einsatzbereitschaft der Nato durch Beschleunigung, Koordinierung und Sicherung der Bewegung der alliierten Truppen im gesamten Bündnisgebiet, wann immer dies erforderlich ist.“
Heute kaum mehr vorstellbar: Bis das JSEC im September 2021 seine volle Einsatzfähigkeit meldete, fehlte der Nato ein Stab, der diese Fähigkeiten „auf Knopfdruck“zur Verfügung stellen und Pläne erarbeiten konnte.
Erst im Jahr 2018 wurde mit der Aufstellung des JSEC begonnen. Mit der Stärkung ihrer Kommandound Streitkräftestruktur reagierte die Nato auf die bereits als aggressiv wahrgenommene Politik Russlands. Im Zuge der Entspannungspolitik waren die Strukturen in den vergangenen Jahrzehnten enorm reduziert worden.
Von den zeitweise mehreren Dutzend Hauptquartieren sind nach Nato-Angaben heute nur noch sieben übrig.
Sorgen bereiteten den Militärs vor fünf Jahren neben dem Zustand von militärisch nutzbaren Straßen- und Schienenverbindungen in Richtung Osten vor allem bürokratische Hürden beim
Transport von Truppen und Ausrüstung.
Zurück nach Ulm, zurück zu General Sollfrank. Er erläutert: „Dem Oberbefehlshaber der Nato in Europa, dem US-General Christopher Cavoli, unterstehen in einem Verteidigungsfall zunächst rund 300.000 Soldaten zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Er muss diese Kräfte räumlich und zeitlich koordinieren. Konkret: Die Nationen melden ihre Kräfte, der Oberbefehlshaber muss diese rechtzeitig und nach militärischen Erfordernissen zur richtigen Zeit an den richtigen Ort bringen können. Und um dies zu organisieren, ist das JSEC in Ulm in der Lage.“In den vergangenen Monaten seien Regionalpläne für die drei großen Regionen des Bündnisses, den Atlantik, Zentraleuropa und Südeuropa, erarbeitet worden.
„Wenn beispielsweise im Krisenfall eine US-Division mit 20.000 Mann und 10.000 Fahrzeugen auf Schiffen in Antwerpen eintrifft und dann an der polnischen Ostgrenze eingesetzt werden soll, geht es darum, den Transport über Straße und Schiene zu organisieren“, erläutert
Sollfrank. Doch welche Straßen, Autobahnen und Eisenbahnstrecken haben welche technischen Voraussetzungen wie Tragfähigkeit der Brücken oder Schienenstränge? Wo gibt es Truppenübungsplätze für weitere Ausbildungen? Wo kann man 10.000 Fahrzeuge betanken und reparieren? Sollfrank: „Die Nationen, durch deren Hoheitsgebiet wir die Truppen schicken wollen, sind souverän, man kann nicht einfach durchfahren, besonders nicht in Friedenszeiten. Wir wissen, welche Bestimmungen der einzelnen Länder, durch die die Transportrouten verlaufen, beachtet werden müssen.“Es gehe um Abstimmungen – auch diplomatischer Natur. Gleichzeitig müsse der vom Nato-Oberbefehlshaber in Europa vorgegebene militärische Zeitplan, wann die Truppen an welchem Ort einsatzbereit sein müssen, eingehalten werden.
Bis zum Ende des Kalten Krieges kannte auch die Bundeswehr den sogenannten Wallmeister: Er war verantwortlich für den Bau, die Reparatur oder den Rückbau von Verteidigungseinrichtungen, hatte Kenntnisse über Straßen, Schienen, Brücken, Wasserwege, Häfen und Flughäfen. Spätestens mit dem Umbau der Bundeswehr zur Einsatzarmee fielen diese Posten weg: „Und damit auch die speziellen Kenntnisse“, sagt General Sollfrank, „die Nationen bauen diese Fähigkeiten wieder auf, sie werden für die Landes- und Bündnisverteidigung, die jetzt wieder im Fokus steht, benötigt.“
Sollfrank ist überzeugt, dass sein Kommando die Aufgaben im Ernstfall gut bewältigen kann, Nato-Truppen zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zu koordinieren und deren Durchhaltefähigkeit sicherzustellen. „Getrennt marschieren, vereint schlagen“. Dieser vom Chef des preußischen Generalstabs Helmuth von Moltke (1800-1891) geprägte Grundsatz der Schlacht von Königgrätz 1866 gelte laut Sollfrank auch heute noch, müsse aber vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Rahmenbedingungen gedacht werden.