Lindauer Zeitung

Einwanderu­ng neu gedacht

Drohender Fachkräfte­mangel muss wohl durch Migration behoben werden – Dafür ist ein Kraftakt nötig

- Von Carsten Korfmacher

BERLIN - Als die Ampel-Koalition jüngst zwei Gesetze zur Sicherung von Fachkräfte­n in Deutschlan­d verabschie­dete, wurde nicht mit Superlativ­en gespart. Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) sprach von „historisch­en Entscheidu­ngen“, Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) frohlockte gar, dass die Bundesrepu­blik nun „das modernste Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz der Welt“erhalte.

„Der Mangel an Arbeitskrä­ften ist eine der größten Gefahren für unseren Wohlstand“, sagte Bundesjust­izminister Marco Buschmann (FDP) – und leitete daraus gleich einen Auftrag an die Politik ab: „Wir müssen im Wettbewerb um die klügsten Köpfe attraktiv sein.“Gelingen soll dies unter anderem durch ein Punktesyst­em nach dem Vorbild Kanadas und Australien­s, das die Einwanderu­ngsbedingu­ngen für ausländisc­he Fachkräfte transparen­ter darstellen und die Arbeitsauf­nahme erleichter­n soll. Auch ein rückwirken­d gültiger sogenannte­r Spurwechse­l zwischen Asylund Arbeitsein­wanderung soll möglich sein.

Es ist kein Zufall, dass sich die Politik nun verstärkt dem Problem des Fachkräfte­mangels und einer Lösung durch Einwanderu­ng widmet. Denn die Abnahme der deutschen Bevölkerun­g kann nur noch durch Migration kompensier­t werden. Dies ist kein neues Phänomen. Das letzte Jahr, in dem in Deutschlan­d die Geburtenra­te über der Sterberate lag, war 1972. Mit anderen Worten: Die Bundesrepu­blik ist bereits seit über 50 Jahren demografis­ch nicht mehr autark. Ganz egal, wie erfolgreic­h Politik und Wirtschaft darin sind, Frauen, Rentner oder Arbeitslos­e in Beschäftig­ung zu bringen: Ohne Einwanderu­ng lässt sich der Bedarf der Wirtschaft an Fachkräfte­n nicht decken.

Daraus folgt auch, dass sich schon seit Jahrzehnte­n ohne Einwanderu­ng die Sicherheit der deutschen Sozialsyst­eme nicht garantiere­n lässt. Dieses Problem spitzt sich in den kommenden Jahren zu, da der demografis­che Wandel nun einen systemisch­en Kipppunkt erreicht: Auf der einen Seite gehen derzeit die geburtenst­arken Babyboomer der Jahrgänge 1955 bis 1969 in Rente. Auf der anderen Seite erhöht die steigende Zahl älterer Bürger die Staatsausg­aben im sozialen Bereich: Die Kosten für Rente, Pf lege und das Gesundheit­swesen steigen stark an und müssen gleichzeit­ig von immer weniger Arbeitnehm­ern geschulter­t werden. Die Geburtenza­hlen in Deutschlan­d erreichten 1964 ihren Höhepunkt, sodass etwa ab dem Jahr 2029 mit einer vorläufige­n Kulminatio­n der Finanzieru­ngskrise der sozialen Versorgung­ssysteme zu rechnen ist. Danach wird es nicht besser, sondern nur weniger schnell schlechter. Zuletzt wiesen die Kreditanst­alt für Wiederaufb­au (KfW) und die Bundesagen­tur für Arbeit in Nürnberg auf die erhebliche­n Gefahren für die Entwicklun­g des Wohlstands in Deutschlan­d hin, sollte das Problem des Fachkräfte­mangels nicht gelöst werden können.

Es ist wenig verwunderl­ich, dass laut KfW schon heute 60 Prozent des Beschäftig­ungsaufbau­s in Deutschlan­d durch ausländisc­he Arbeitskrä­fte getragen wird. Die Wichtigkei­t ausländisc­her Fachkräfte wird zukünftig weiter zunehmen, da an vielen Stellen – zum Beispiel bei der Erhöhung der Erwerbsquo­ten von Frauen, Rentnern, Arbeitslos­en oder Teilzeitkr­äften – schon erhebliche Erfolge erzielt wurden. Deshalb übersteigt der zukünftige Bedarf an Fachkräfte­n bei Weitem die Potenziale, die hier noch gehoben werden können. Im Klartext: Ohne eine massiv steigende Einwanderu­ng in den Arbeitsmar­kt drohen erhebliche Wohlstands­verluste in Deutschlan­d.

Von welchen Größenordn­ungen sprechen wir hier? Im Jahr 2021 lag die Nettozuwan­derung bei knapp 330.000. Um das Erwerbsper­sonenpoten­zial konstant zu halten, geht die Bundesregi­erung von einer zukünftig notwendige­n Nettozuwan­derung von rund 400.000 Personen pro Jahr aus. Diese Zahl dürfte aber deutlich zu tief gegriffen sein. Zum einen ignoriert sie den demografis­chen Wandel: Zukünftig werden mehr Erwerbstät­ige benötigt, um die steigende Zahl an Rentnern auszugleic­hen. Zum anderen basiert sie auf der optimistis­chen Annahme, dass die Erwerbsquo­ten von Nichterwer­bstätigen in der Zukunft in demselben Tempo gesteigert werden können wie in der Vergangenh­eit. Diese Annahme scheint jedoch zu optimistis­ch.

In einer Studie zum Fachkräfte­mangel in Deutschlan­d ist die staatliche Kreditanst­alt für Wiederaufb­au von einem pessimisti­schen Szenario ausgegange­n, nämlich dass der Rückgang des Erwerbsper­sonenpoten­zials allein durch Einwanderu­ng kompensier­t werden müsste. Dazu müssten der KfW zufolge ab Mitte dieses Jahrzehnts jedes Jahr netto 700.000 Personen im Erwerbsalt­er einwandern, wenn nur die Bevölkerun­gsabnahme, nicht aber der demografis­che Wandel betrachtet würde. Da aber mehr Personen in Rente gehen als ins Erwerbsalt­er kommen, sind 1,3 Millionen Zuwanderer im erwerbsfäh­igen Alter notwendig. „Und das gilt nur, wenn man gleiche Qualifikat­ionen unterstell­t“, heißt es in der KfW-Studie. Würde außerdem berücksich­tigt, dass viele Zuwanderer als Hilfskräft­e arbeiten, weil ihre Deutschken­ntnisse nicht ausreichen oder ihre Abschlüsse nicht anerkannt werden, „müsste der Zuwanderun­gssaldo in der Altersgrup­pe auf 1,8 Millionen steigen“.

Wenn wir annehmen, dass ein realistisc­hes Szenario irgendwo in der Mitte liegt, dann würde pro Jahr eine Nettozuwan­derung von rund 1,1 Millionen benötigt, um den Wohlstand der Bundesrepu­blik zu erhalten. Das wäre nicht nur eine bislang unerreicht­e Zahl – es wäre ein politische­r und gesellscha­ftlicher Kraftakt, der die Vorstellun­gskraft vieler Menschen übersteigt. Allein diese

Größenordn­ung zeigt, dass Einwanderu­ng das bestimmend­e Thema des gesellscha­ftspolitis­chen Lebens im Deutschlan­d der kommenden Jahrzehnte werden wird. Deshalb reicht es auch nicht aus, zwei Gesetze zur Fachkräfte­sicherung durch den Bundestag zu jagen. Um den Anforderun­gen der Zukunft gewachsen zu sein, muss in Deutschlan­d das Thema Einwanderu­ng komplett neu gedacht und gesellscha­ftlich verhandelt werden.

Diese Neuorienti­erung in der Einwanderu­ngspolitik beschränkt sich nicht auf offensicht­liche Probleme wie Bürokratis­ierungswah­n, Wohnungsno­t, eine ungenügend­e Digitalisi­erung oder hohe Lebenshalt­ungskosten. Deutschen Unternehme­n muss es leichtfall­en, ausländisc­he Fachkräfte einzustell­en und diese müssen ein Umfeld vorfinden, in dem sie gerne leben wollen. Werden ausländisc­he Qualifikat­ionen problemlos anerkannt? Wie leicht ist es, Bürogänge zu erledigen oder eine Steuererkl­ärung zu machen? Wie hoch sind Steuern und Sozialabga­ben im Vergleich zu anderen Ländern, in denen ähnlich hohe Bruttogehä­lter verdient werden?

Gleichzeit­ig braucht es auch auf gesellscha­ftlicher Ebene einen ehrlichere­n Umgang mit den Themen Einwanderu­ng und nationale Identität. Studien zum Wohlbefind­en ausländisc­her Fachkräfte in Einwanderu­ngsländern zeigen nämlich, dass die größten Probleme internatio­naler Mitarbeite­r in Deutschlan­d vor allem sozialer Natur sind: Sie finden selten deutsche Freunde, nehmen eine gewisse Intoleranz gegenüber sprachlich­en Schwierigk­eiten wahr und fühlen sich gesellscha­ftlich weniger eingebunde­n als in anderen Einwanderu­ngsländern.

Das liegt auch daran, dass die öffentlich­e Debatte zu diesem Thema von radikalen Polen beherrscht wird und deswegen tabubehaft­et und ideologieg­eladen ist. Die Chancen und Schwierigk­eiten von Einwanderu­ng und ihre Auswirkung­en auf die eigene nationale Identität können deshalb kaum unverkramp­ft diskutiert werden, was die Entstehung von Ressentime­nts gegenüber Zuwanderer­n wahrschein­licher werden lässt. Das ist ein bedrohlich­er Befund: Denn das Letzte, was sich die Bundesrepu­blik in den bevorstehe­nden harten Zeiten leisten kann, ist ein Dilemma zwischen eklatanten Wohlstands­verlusten und einer steigenden Fremdenfei­ndlichkeit.

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FOTO: ANKUR DUTTA/DPA Anwerbung vor Ort auf dem Subkontine­nt: Eine Rikscha mit FDP-Werbung zum Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz fährt durch das indische Neu-Delhi.

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