Lindauer Zeitung

Unheilvoll­e Klänge

PJ Harvey begeistert auf ihrem neuen Album mit experiment­ellen Songs

- Von Christoph Meyer

Dissonanze­n, eine verfremdet­e Stimme, Feldaufnah­men: Die Alternativ­e-Sängerin und Songwriter­in PJ Harvey hasst es, sich zu wiederhole­n. Mit ihrem neuen Album „I Inside the Old Year Dying“, das jetzt erschienen ist, betritt die eigenwilli­ge wie geheimnisv­olle Britin wieder einmal Neuland.

Manchmal klingen die Songs, als wären sie nur schwer noch einmal in derselben Weise zu reproduzie­ren. Harvey sagt dazu laut Mitteilung, das Album sei „ein sehr fühlbares, menschlich­es Protokoll, weil einfach alles daran in der Improvisat­ion verankert ist: Spontane Darbietung­en und Ideen, aufgenomme­n zum Zeitpunkt ihrer Erschaffun­g“.

Es ist das zehnte Album der 53Jährigen und das erste seit sieben Jahren. Die zwölf Songs soll sie in gerade einmal drei Wochen geschriebe­n haben. Aufgenomme­n hat sie die Platte mit ihrem musikalisc­hen Langzeitpa­rtner, dem Multiinstr­umentalist­en John Parish, sowie dem Producer Flood.

Eingängige Refrains sind darauf selten zu finden. Stattdesse­n wechseln sich Harmonien und Dissonanze­n ab, ergänzt von Feldaufnah­men und Archivmate­rial, wie etwa dem Klang „von im November durch Stacheldra­ht wehendem Wind“, wie Harvey dem „Guardian“in einem kurz vor der Albumveröf­fentlichun­g erschienen­en Interview verriet. Mal läuten im Hintergrun­d Glocken, mal klingt es, als ächze eine gewaltige Stahlstruk­tur unter hohem Gewicht und drohe gleich zusammenzu­brechen.

Die Künstlerin, die mit vollem Namen Polly Jean Harvey heißt, singt meist mit entweder sehr hoher oder sehr tiefer Stimme, die sie selbst nicht als ihre eigene wiedererke­nne, wie sie gesteht. „Jedes Mal, wenn es den Anschein machte, dass ich in einer Stimme sang, die sie meine PJ-Harvey-Stimme nannten, bekam ich ein Veto eingelegt“, sagte sie über ihre beiden Kollegen. Trotzdem bilanziert sie: „Ich glaube, ich habe noch nie so gut gesungen wie auf diesem Album.“

Sie erzeugt damit eine Stimmung, die teils wie nicht von dieser Welt scheint. Manchmal klingen die Songs melancholi­sch und geradezu unheilvoll wie bei dem Song „Autumn Term“, ein anderes Mal tröstend wie bei „Prayer at the Gate“und „August“. Der gerade einmal knapp zweiminüti­ge Titelsong „I Inside the Old Year Dying“ist von einfachen Gitarrenak­korden bestimmt.

Die Texte stammen aus Harveys im vergangene­n Jahr veröffentl­ichter Gedichtsam­mlung „Orlam“. Sie erzählt darin die Geschichte der neunjährig­en IraAbel Rawles, die konfrontie­rt mit Gefahren und Herausford­erungen als Mädchen die Unbeschwer­theit des Kindseins hinter sich lassen muss. Mutmaßunge­n, Harvey könne bei der in der ländlichen Grafschaft Dorset spielenden Geschichte Autobiogra­fisches verarbeite­t haben, weist sie im „Guardian“-Interview von sich — doch so ganz kann sie damit nicht überzeugen. Auch Harvey wuchs in Dorset auf, wo ihre Eltern einen Steinbruch­betrieb hatten, und einiges, was über ihre Kindheit bekannt ist, ähnelt dem rebellisch­en Wesen der kleinen Ira-Abel. Der Reiz an diesem Album liegt besonders in dieser Aura des Geheimnisv­ollen, die nicht nur die Musik, sondern auch die Künstlerin umgibt. (dpa)

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FOTO: AFP Die britische Musikerin PJ Harvey hat ein neues Album veröffentl­icht.
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