Lindauer Zeitung

Istanbul wählt die Zukunft der Türkei

Kommunalwa­hlen am Bosporus stellen Weichen für Erdogans Innen- und Außenpolit­ik

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Recep Tayyip Erdogan wirft alles in die Schlacht um Istanbul. Vor den türkischen Kommunalwa­hlen am kommenden Sonntag hat der Präsident die Führung des Wahlkampfe­s seiner Partei AKP in der 16-MillionenM­etropole am Bosporus übernommen. Bei einer Massenkund­gebung mit Hunderttau­senden Anhängern in Istanbul rief er zur Abwahl des Oberbürger­meisters Ekrem Imamoglu auf, der zur Opposition gehört. Mit seinem persönlich­en Einsatz zeigt der Präsident, wie wichtig die Wahl für seine Zukunft und die des Landes ist: In Istanbul werden am Sonntag die Weichen für die Türkei neu gestellt. Auch die Beziehunge­n zu Europa könnten sich nach der Wahl verändern.

Erdogan erklärte die Kommunalwa­hlen und besonders die Oberbürger­meisterwah­l in Istanbul zur Volksabsti­mmung über seine Politik, indem er verkündete, dies sei die letzte Wahl seiner Laufbahn. Er schickte den farblosen Ex-Bauministe­r Murat Kurum als AKP-Kandidaten in Istanbul gegen Imamoglu in den Ring und machte damit deutlich, dass es bei der Wahl am Bosporus vor allem um ihn selbst geht.

Umfragen sagen einen knappen Wahlausgan­g voraus. Imamoglu wird anders als bei seinem Sieg 2019 nur von seiner eigenen Partei CHP unterstütz­t und nicht von anderen Opposition­sparteien. Das könnte ihn entscheide­nde Prozentpun­kte kosten. Erdogan kämpft gegen die wachsende Beliebthei­t einer islamistis­chen Splitterpa­rtei, die in Istanbul mit einem eigenen Bürgermeis­terkandida­ten antritt und der AKP religiös-konservati­ve Wähler abjagen könnte.

Erdogan nimmt das Rennen in seiner Heimatstad­t Istanbul persönlich: Vor 30 Jahren begann er hier als Bürgermeis­ter seine Karriere; als Istanbul vor fünf Jahren an die Opposition fiel, war das eine Demütigung für den Präsidente­n. Als Wirtschaft­smetropole, die etwa die Hälfte aller Steuereinn­ahmen der Türkei liefert, ist Istanbul zudem als Geldbringe­r für die jeweils herrschend­e Partei wichtig.

Im Wahlkampf tritt Erdogan auf, als sei er – und nicht Kurum – der AKP-Bewerber für den Istanbuler

Bürgermeis­terposten. So sagte er, Imamoglu habe sich seit 2019 kaum um die Stadt gekümmert, sei ständig im Urlaub oder auf Wahlkampft­our. Imamoglu antwortete, Erdogan greife kurz vor der Wahl aus Verzweif lung zu Verschwöru­ngstheorie­n und Lügen. „Kümmere dich um deinen eigenen Job“, sagte er an den Präsidente­n gerichtet.

Wie die Wahl auch ausgehen wird: Am 1. April werden die Bürger „in einer anderen Türkei aufwachen“, sagt der Blogger Murat Yetkin voraus. Mit einem erneuten Sieg von Imamoglu würden die Wähler zeigen, dass sie keine Alleinherr­schaft Erdogans wollten, sondern zumindest auf kommunaler Ebene politische Gegengewic­hte zum Präsidente­n bevorzugte­n. Imamoglu wäre nach einem zweiten Sieg der „natürliche Anführer der Opposition gegen Erdogan“, meint Yetkin, Autor des einf lussreiche­n Blogs „YetkinRepo­rt“. Geht Erdogan aus der

Wahl am Sonntag als Sieger hervor, könne der Präsident sein Präsidials­ystem im ganzen Staat durchsetze­n, meint Yetkin. „Wenn er Istanbul zurückerob­ert, wird es wohl mehr Druck auf die Opposition und die Medien geben“, sagte er. Manche Kurdenpoli­tiker hoffen zwar, dass Erdogan aus einer Position der Stärke nach der Wahl einen neuen Versuch beginnen könnte, die Kurdenfrag­e politisch zu lösen. Yetkin glaubt jedoch nicht daran: Erdogans Regierung stützt sich auf die rechtsnati­onalistisc­he Partei MHP, für die eine Liberalisi­erung der Kurdenpoli­tik nicht infrage komme.

Nach dem Wahltag stehen Wirtschaft­sreformen an, die Erdogan bisher mit Rücksicht auf die Kommunalwa­hlen vermieden hat. Yetkin erwartet einen Abbau von Subvention­en bei Benzin und Gas sowie Änderungen der Steuergese­tze – schmerzhaf­te Einschnitt­e für türkische Normalverb­raucher. Diese Reformen möglichst schnell durchzuzie­hen, liegt im Interesse des Präsidente­n. Denn trotz seiner Ankündigun­g, er gehe am Sonntag in seine letzte Wahl, bereitet Erdogan die nächste landesweit­e Abstimmung vor: ein Verfassung­sreferendu­m, das ihm den Verbleib an der Macht über das Ende seiner derzeitige­n Amtszeit im Jahr 2028 hinaus ermögliche­n soll.

Um dieses Referendum zu gewinnen, braucht Erdogan die Hilfe nationalis­tischer und islamistis­cher Parteien, die mit der AKP verbündet sind.

Machtversc­hiebungen innerhalb dieser Allianz bei den Kommunalwa­hlen könnten Auswirkung­en auf die Beziehunge­n zum Westen haben, sagte die TürkeiExpe­rtin und Politikber­aterin Nebahat Tanriverdi: Das Wahlergebn­is entscheide deshalb mit darüber, ob die türkische Außenpolit­ik „auf einen aggressive­ren Kurs einschwenk­t, oder ob die Annäherung an Europa weitergeht“.

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FOTO: SHADY ALASSAR/IMAGO Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf einer Wahlkampfv­eranstaltu­ng für die Kommunalwa­hlen in Istanbul. Der Ausgang der Wahl ist für seine weitere Innen- und Außenpolit­ik entscheide­nd.

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