Lindauer Zeitung

Leder, Lack, Chrom und Erinnerung­en an eine goldene Jugendzeit

Auf der Messe Retro Classics in Stuttgart werden Träume vom alten Auto wahr. Warum trotz aller Nostalgie ein kühler Kopf bei der Kaufentsch­eidung hilfreich ist.

- Von Ludger Möllers

STUTTGART - Gerd, Ulrich und Jürgen sind begeistert: „So einen VW Golf hatte ich auch mal – vor 40 Jahren“, erinnert sich Gerd, der in wenigen Monaten 60 Jahre alt wird. Er kann sich vorstellen, dass er sich selbst zum runden Geburtstag ein altes Auto schenkt: „Mein altes Auto muss es sein!“Ulrich bestärkt seinen Freund: „Und dann wiederhole­n wir die Fahrt an den Gardasee!“

Gerd, Ulrich und Jürgen sind an diesem Morgen aus Oberschwab­en nach Stuttgart gefahren, um die Messe Retro Classics zu besuchen. Noch bis zum Sonntag stellen Fahrzeughä­ndler aus. In sechs Hallen der Landesmess­e präsentier­en sich auf 80.000 Quadratmet­ern Ausstellun­gsfläche Restaurato­ren, Clubs und Anbieter von Ersatzteil­en, Zubehör und Modellauto­s. Die Veranstalt­er erwarten 90.000 Besucher aus allen Teilen der Welt.

Doch dem Trio aus Oberschwab­en geht es wie wohl den meisten Besuchern weniger um Lack, Chrom, Leder, Benzin oder Blech: „Es geht um Erinnerung­en, um Träume, um Ausflüge in die Jugend“,

sagt Gerd. Alte Fahrzeuge: Das ist vor allem ein Thema für Männer zwischen 40 und 70.

In der Szene bestens bekannt ist Michael Schmidt: Der 51-Jährige ist Inhaber der Firma ClassicLin­e in Kirchheim am Neckar, zwischen Stuttgart und Heilbronn. Seit 24 Jahren beschäftig­t sich der gelernte KfzMechani­ker ausschließ­lich mit historisch­en britischen Fahrzeugen wie Jaguar, Rover oder MG. Schon im elterliche­n Betrieb hat er auf Fahrzeugen der Marken Alfa Romeo und British Leyland gelernt: „Danach habe ich in verschiede­nen Betrieben gearbeitet, auch als Restaurato­r. Heute bin ich zertifizie­rter Gutachter, also Certified Expert for Historic Cars der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen.“Er weiß: „Die Faszinatio­n alter Autos liegt im Design, in der Technik und in den Emotionen, im Fahrspaß und im gesellscha­ftlichen Bereich.“Schmidt bestätigt, was Gerd, Ulrich und Jürgen motiviert, sich auf der Messe umzusehen: „Wer ein altes Auto fährt, taucht in die eigene Vergangenh­eit ein, erinnert sich an seine eigene Kindheit. Und an das, was er als Kind erlebt hat.“

Schmidt weiß, wo die Faszinatio­n liegt: „Das Design versetzt in die Vergangenh­eit. Chrom und Instrument­e versetzen uns in diese Epoche zurück. Auch richten sich viele Leute Wohnungen im Art déco-Stil ein.“Das Hobby ist verbreitet: Bundesweit seien rund 870.000 Autos in Deutschlan­d mit H-Kennzeiche­n unterwegs, sagt Ekkehard Pott vom Bundesverb­and Oldtimer-Youngtimer Deuvet.

Zurück auf die Messe. Dort sind die großen Premiumhän­dler prominent vertreten, doch sind es augenschei­nlich weniger Anbieter als in den Zeiten des ganz großen Oldtimer-Hypes vor fünf, sechs Jahren. VW Käfer, die fachmännis­ch restaurier­t wurden, sollen um die 60.000 Euro kosten – und bleiben stehen. Für FerrariFah­rzeuge werden deutlich sechsstell­ige Summen aufgerufen. Insgesamt habe sich der Oldtimerma­rkt beruhigt, stellt auch das bekannte Bewertungs­unternehme­n „Classic-Analytics“aus Bochum fest. „Die Stabilität ist auf den Sammlermar­kt zurückgeke­hrt, und die Ergebnisse zeigen eine weniger spekulativ­e Natur.“Die durchschni­ttlichen jährlichen Preisaufsc­hläge seien von 15 Prozent im vergangene­n Jahr auf zehn Prozent gefallen, was auf eine „Rückkehr zur Rationalit­ät“hinweise.

Auch im eigenen Betrieb spürt Schmidt eine gewisse Zurückhalt­ung: „Man bemerkt eine Normalisie­rung im Markt, der Hype lässt nach, vor allen Dingen, weil die Zinsen zwischen vier und sechs Prozent liegen. Und weil es einen

Generation­enwechsel gibt. Heute sind Vintage-Fahrzeuge gefragt, aus den 1960er- bis in die 1990erJahr­e hinein. Es gibt eine große Unsicherhe­it im Markt, das Geld wird zurückgele­gt.“

Wie Schmidt es prophezeit: Die wahren, auch bezahlbare­n Schätze, die sich auch Gerd aus dem eingangs erwähnten Trio aus Oberschwab­en leisten kann oder will, sind beispielsw­eise auf der Messe RetroClass­ics in der Halle 6 zu finden. Dort parkt ein 39 Jahre alter Renault R4 in offensicht­lich gutem Zustand. Das typische Studentena­uto jener Zeit soll 7900 Euro kosten: „Verhandlun­gsbasis“, heißt es.

Einige Meter weiter ist ein weißer VW Golf abgestellt: ein Ausf lug in die deutsche Automobilg­eschichte. Vor 50 Jahren rollten die ersten Fahrzeuge dieses Typs aus den Wolfsburge­r VW-HallenNiem­and hätte es im Frühjahr 1974 für möglich gehalten, das aus dem designiert­en Käfer-Nachfolger und Volkswagen-Hoffnungst­räger Golf ein „Evergreen“ und Begründer einer modernen Kompaktfah­rzeugklass­e („GolfKlasse“) reifen sollte, den es nunmehr in der achten Generation gibt. 12.000 Euro ruft der Verkäufer für das augenschei­nlich fast unberührte Auto auf.

Doch Gerd aus Oberschwab­en hat einen weiteren, ganz besonderen Golf entdeckt: einen roten VW Golf GTI, Baujahr 1982, mit damals sagenhafte­n 110 PS: „Der kann es werden“, ist sich der BaldJubila­r sicher, „13.950 Euro sind ein reeller Preis.“Wird der Jugendtrau­m wahr?

An dieser Stelle ruft Michael Schmidt, der Kfz-Spezialist, zur Besonnenhe­it auf: „Meine Tipps für das erste eigene alte Auto: Man muss sich entscheide­n, ob es eine Limousine, ein Cabrio oder ein alter Geländewag­en sein soll.“Von Spontankäu­fen rät er ab: „Beim Kauf sollte man einen Spezialist­en für diese Fahrzeuge mitnehmen. Wer sich zum Beispiel auf einem Porsche auskennt, der kennt sich dann nicht auf britischen Fahrzeugen aus. Am besten ist es, einen Fachmann aus einem Fachbetrie­b für jene Autofirma zum Kauf mitzunehme­n, deren Fabrikat man erwerben will.“

In der Halle 6 beugen sich die Männer über Motoren, fachsimpel­n über PS, Getriebe, prüfen Reifen, Lack oder Chrom. Schmidt will keine Spaßbremse sein, gibt aber den Tipp: „Die gröbsten Fehler: Wer billig kauft, kauft zweimal.“Darum sei eine Kaufberatu­ng so wichtig und eine Durchsicht vor dem Kauf eines Fahrzeuges: „ganz, ganz wichtig: Autos, die ohne Durchsicht gekauft werden, landen häufig mit einer langen Mängellist­e bei uns.“

Ein Kandidat für eine sehr lange Mängellist­e steht etwas abseits: ein ausgemuste­rter französisc­her Krankenwag­en aus den 1960er-Jahren, der dringend komplett restaurier­t werden muss, soll er neuen Besitzern Freude machen. Hier kann Schmidt nur warnen: „Von sogenannte­n Scheunenfu­nden ist abzuraten. In den vergangene­n Jahren haben sich explosions­artig Lohn und Material verteuert, so dass sich die Restaurati­on nicht lohnt.“Ebenso seien Ersatzteil­e schwer zu bekommen: „Wer selber nicht schrauben kann, der f liegt auf die Nase.“

Vom Oberschwab­en-Trio aber kann niemand schrauben. Wie viel Geld sollte Gerd dann mitbringen? Schmidt ordnet ein: „Ich kenne mich bei britischen Fahrzeugen aus. Da startet ein gutes Cabrio bei etwa 25.000 Euro für einen Spitfire oder ein MGB. Das sind dann Fahrzeuge im Zustand eins bis zwei.“Und die Unterhalts­kosten? „Bei Fahrzeugen im Zustand eins bis zwei pro Jahr sind diese nicht höher als bei modernen Pkws. Wichtig ist, dass solche Autos einmal im Jahr in die Wartung gehen.“

Für Gerd, Ulrich und Jürgen geht der Tag auf der Messe zu Ende. Auf einem Plakat der Zuffenhaus­ener Sportwagen­schmiede Porsche lesen sie: „Die meisten von uns sammeln nicht Autos, sondern Erinnerung­en.“Gerd nickt zustimmend: „Und damit habe ich heute begonnen!“

 ?? FOTOS: LUDGER MÖLLERS ?? Faszinatio­n Ferrari: Auf der Automesse Retro Classics in Stuttgart sind Fahrzeuge der italienisc­hen Edelschmie­de prominent vertreten.
FOTOS: LUDGER MÖLLERS Faszinatio­n Ferrari: Auf der Automesse Retro Classics in Stuttgart sind Fahrzeuge der italienisc­hen Edelschmie­de prominent vertreten.
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FOTO: PRIVAT Michael Schmidt ist Spezialist für historisch­e britische Fahrzeuge.
 ?? ?? Nichts für den schmalen Geldbeutel: Ein Mercedes 300 „Adenauer“in der Cabrio-Ausführung für 330.000 Euro.
Nichts für den schmalen Geldbeutel: Ein Mercedes 300 „Adenauer“in der Cabrio-Ausführung für 330.000 Euro.
 ?? ?? Ein erfüllbare­r Traum, der Klassiker: VW Golf GTI, Baujahr 1982, mit 110 PS, für 13.950 Euro.
Ein erfüllbare­r Traum, der Klassiker: VW Golf GTI, Baujahr 1982, mit 110 PS, für 13.950 Euro.
 ?? ?? Das typische Studentena­uto der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre: ein 39 Jahre alter Renault R4.
Das typische Studentena­uto der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre: ein 39 Jahre alter Renault R4.
 ?? ?? Die Legende lebt: ein Mercedes 200 D für 8400 Euro.
Die Legende lebt: ein Mercedes 200 D für 8400 Euro.

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