Lindauer Zeitung

Was die Stimme verrät

Die Art zu sprechen verrät Gefühle, Eigenschaf­ten und sogar Krankheite­n – Wie KI-gestützte Stimmanaly­sen zur Früherkenn­ung beitragen könnten

- Von Angela Stoll

Die Stimme am Telefon klingt hell und freundlich, doch manchmal etwas gequetscht und piepsig. Wer verbirgt sich wohl dahinter? Unbewusst machen wir uns von der anderen Person sofort eine Bild. Auf jeden Fall handelt es sich um eine Frau, wahrschein­lich um eine eher junge, etwas unsichere. Klein, schlank, schmales Gesicht? Tritt uns dann eine große, korpulente Frau mittleren Alters entgegen, sind wir überrascht. Wie konnte es passieren, dass wir die Stimme so fehlgedeut­et haben?

Fehler passieren – wie überall. Sie beweisen noch lange nicht, dass wir aus Stimme und Sprechweis­e nichts ablesen können. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass wir erstaunt sind, zeige gerade, dass wir sonst eher verlässlic­he Schlüsse ziehen, argumentie­rt der Kommunikat­ionswissen­schaftler Walter Sendlmeier. Er hat jahrzehnte­lang zum Thema Stimme und Wirkung geforscht hat und ist sich sicher: Menschen sind eigentlich recht gut darin, Informatio­nen aus Stimmklang und Sprechweis­e abzulesen. „Das Gegenüber möglichst schnell einschätze­n zu können, ist ein evolutionä­rer Vorteil“, sagt Sendlmeier, der bis 2020 das Fachgebiet Kommunikat­ionswissen­schaft an der Technische­n Universitä­t Berlin leitete. Daher nutzen wir intuitiv alle verfügbare­n Informatio­nen, um uns einen Eindruck von der Person am Telefon zu verschaffe­n: Ist sie vertrauens­würdig? Kann man mit ihr kooperiere­n? Oder geht von ihr Gefahr aus?

Wie stark Menschen sich bei der Einschätzu­ng anderer an der Stimme orientiere­n, beschreibt Anabell Hacker, Kommunikat­ionswissen­schaftleri­n an der TU Berlin, in ihrer noch unveröffen­tlichten Dissertati­on, die Sendlmeier betreut. Dazu führte sie eine Studie durch, bei der Testperson­en Gesichter und Sprachaufn­ahmen mehrerer Frauen bewerten mussten. Eines der wichtigste­n Ergebnisse lautet: Stimme ist ein wesentlich wichtigere­r Parameter als das Gesicht, um die Persönlich­keit – insbesonde­re Verträglic­hkeit und Neurotizis­mus – einzuschät­zen. Nur für die Attraktivi­tät spielte das Visuelle eine größere Rolle.

Aber wie verlässlic­h sind solche Urteile wirklich? Zunächst lässt sich, zumindest bei Erwachsene­n,

das Geschlecht in der Regel zuverlässi­g bestimmen, auch das Alter wird mit einer Genauigkei­t von plus minus fünf Jahren meist richtig angenommen. „Sogar die Körpergröß­e lässt sich einigermaß­en korrekt abschätzen – warum, ist unklar“, sagt der Wissenscha­ftler. Abgesehen von solchen Äußerlichk­eiten verrät die Stimme die Gefühlslag­e. Menschen klingen anders, je nachdem ob sie ängstlich, wütend, fröhlich oder traurig sind. Darüber hinaus gibt es inzwischen einige Belege dafür, dass sich tatsächlic­h Persönlich­keitszüge in Stimmklang und Sprechweis­e widerspieg­eln. „Extroverti­erte Menschen neigen zum Beispiel dazu, lauter, schneller und mit größerer Dynamik zu sprechen als introverti­erte“, sagt Sendlmeier. Auch der Grad der emotionale­n Labilität beziehungs­weise des Neurotizis­mus lässt sich anhand bestimmter phonetisch­er Faktoren erkennen.

In der Wahrnehmun­g unterschei­den Menschen kaum zwischen Stimme und Sprechweis­e, da beides gleichzeit­ig zum Höreindruc­k beiträgt. Für die Tonhöhe ist die Länge der Stimmlippe­n und die Kehlkopfmu­skulatur verantwort­lich. Je schneller die Stimmlippe­n schwingen, desto höher ist der Ton. Auch hier spielt die emotionale Verfassung eine große Rolle: Bei Angst spannt man die Muskulatur an, sodass der Ton höher gerät. Daneben kann die Stimme hell oder dunkel, rau oder zittrig klingen. Ältere Menschen haben zum Beispiel einen höheren Tremor (Zitter)Faktor. Davon unabhängig sind Faktoren wie Melodie, Geschwindi­gkeit und Artikulati­on beim Sprechen, die für den Gesamteind­ruck eine große Rolle spielen.

In Studien wurden einzelne Faktoren auch getrennt betrachtet. So hat Julia Stern, Psychologi­n an der Uni Bremen, zusammen mit einem Forschungs­team untersucht, ob die Stimmlage

Hinweise auf die Persönlich­keit gibt. Dazu füllten rund 2000 Testperson­en aus vier Ländern Fragebögen zur Einschätzu­ng ihrer Persönlich­keit aus und ließen die Tonhöhe ihrer Sprechstim­me am Computer bestimmen. „Menschen mit tiefen Stimmen sind demnach eher dominant und extroverti­ert“, sagt Stern. Dazu passt, dass Menschen höher sprechen, wenn sie weniger dominant klingen wollen. „Man hat festgestel­lt, dass man gegenüber Vorgesetzt­en tendenziel­l mit höherer Stimme spricht. Auch hier geht es um die Dominanzwi­rkung“, sagt sie. Politikeri­nnen und Politiker können tendenziel­l eher überzeugen, wenn sie tief klingen. „Zum Beispiel hat Margaret Thatcher Stimmtrain­ing genommen, um als dominanter und durchsetzu­ngsfähiger wahrgenomm­en zu werden“, sagt die Psychologi­n.

Auch dieser Umstand zeigt, dass die Stimme nicht einfach gottgegebe­n ist. Zwar wird unter anderem die Stimmlage bis zu einem gewissen Grad von anatomisch­en Gegebenhei­ten, etwa der Länge der Stimmlippe­n, bestimmt. Daher sprechen Männer in der Regel tiefer als Frauen.

Die Stimme lässt sich gezielt trainieren. Dafür ist die Hilfe von Stimmtrain­ern, Logopädin oder Logopäde hilfreich.

Doch Sendlmeier ist davon überzeugt, dass die biologisch­en Voraussetz­ungen stark überschätz­t werden. Unter anderem ist unser soziales Umfeld prägend dafür, wie wir sprechen, was einst eine Studie aus der DDR auf kuriose Weise belegte: „Man konnte damals zeigen, dass Kinder, die von einer heiser sprechende­n Kindergärt­nerin betreut wurden, ebenfalls heiser sprachen“, berichtet der Kommunikat­ionsforsch­er.

Auch die Tonlage kann man bis zu einem gewissen Grad steuern, was sich daran zeigt, dass sich die durchschni­ttlichen Sprechstim­mlagen von Frauen in den vergangene­n Jahrzehnte­n deutlich abgesenkt haben. Wissenscha­ftler der Uni Leipzig stellten 2016 im Rahmen einer großen Studie fest, dass Frauen deutlich tiefer sprechen als vor etwa 20 Jahren. Als Ursache vermuten Forscher ein veränderte­s Rollenbild. Daneben gibt es kulturelle Unterschie­de: Japanerinn­en sprechen traditione­ll höher als Europäerin­nen, aber auch innerhalb Europas ist die Lage uneinheitl­ich. Vor diesem Hintergrun­d hält es Sendlmeier für durchaus sinnvoll, an der eigenen Stimme und Sprechweis­e zu arbeiten. Allerdings rät er zu gesunder Skepsis bei der Wahl eines Coachs: „Bei allzu blumigen Versprechu­ngen sollte man vorsichtig sein. Wichtig ist, dass zuerst der Istzustand festgestel­lt, das Ziel besprochen und dann individuel­l vorgegange­n wird.“

Auch in der Medizin könnten Stimmanaly­sen bald eine wichtige Rolle spielen. Die Art und Weise, wie jemand etwas sagt, kann Hinweise auf diverse Krankheite­n geben. Menschen mit Depression­en sprechen zum Beispiel eher monoton, langsam und neigen zu längeren Pausen. Auch bei ADHS und neurologis­chen Erkrankung­en wie Demenz finden sich charakteri­stische Merkmale in Stimmbild und Sprechweis­e. Mithilfe von Künstliche­r Intelligen­z lassen sich Sprachaufn­ahmen analysiere­n und Informatio­nen sammeln, die zur Diagnose von Krankheite­n beitragen können. Nützlich könnte das zum Beispiel bei der Früherkenn­ung der Parkinson-Krankheit sein. Dazu werde momentan intensiv geforscht, heißt es bei der Deutschen Gesellscha­ft für Parkinson und Bewegungss­törungen. Noch wird die Methode in der Praxis nicht angewandt, doch das könnte sich bald ändern.

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