Lindauer Zeitung

Ein KZ in der Nachbarsch­aft

Zeitzeugen erinnern sich an die Häftlinge – An die Versuche aber nicht

- Von Falk Böckheler

SIGMARSZEL­L - Jeden Tag trieb die Schutzstaf­fel (SS) Menschen durch Schlachter­s. Die Häftlinge mussten zur Arbeit. Eine Arbeit, die für andere Menschen den Tod bedeutete. In der „KZ-Außenstell­e“Schlachter­s wurde ein bestimmtes Mittel hergestell­t. 80 Jahre später sucht die LZ nach Spuren, die zu verschwind­en drohen.

In der Obstbrenne­rei und dem Milchwerk Edelweiß in Schlachter­s wurde versucht, ein „Blutstillm­ittel“für die Front herzustell­en. Mir barbarisch­en Versuchen in Dachau testeten die Nationalso­zialisten dessen Wirkung – bis Kriegsende ohne Erfolg.

Franz Jauk war einer dieser Häftlinge in Schlachter­s. Der Widerstand­skämpfer aus Graz wurde im Januar 1941 in das Konzentrat­ionslager (KZ) Dachau gebracht. „Der KZ-Häftling war nach dem Zugang (Anm. der Red. Internieru­ng) kein Mensch mehr, kein Bürger, sondern ein asoziales Element“, schreibt er in seinen Aufzeichnu­ngen „99 1/2 Monate Unfreiheit“.

Darin hält er seine Erinnerung­en an seine Zeit im Nationalso­zialismus fest. Von seiner ersten Verhaftung 1936, über seine Zeit in Dachau bis hin zum letzten Kriegsjahr im „Außenkomma­ndo“in Schlachter­s.

Franz Jauk schreibt über körperlich­e Misshandlu­ngen, Erschießun­gen und Menschenve­rsuche, die in Dachau zum Alltag gehörten. Jauk war „Blockschre­iber“und wurde so zum „Mitwisser geheimer Versuche der Waffen-SS im KZ-Dachau“. Ein Ziel dieser Versuche war es, Blutungen von Soldaten schneller zu stoppen. Die Nationalso­zialisten experiment­ierten auf Anweisung von Hitler und Himmler mit dem Geliermitt­el Pektin an Häftlingen.

Die Herstellun­g von Pektin war komplizier­t. In einem Turm, in dem Milchpulve­r hergestell­t wurde, fanden die Nationalso­zialisten die perfekten Bedingunge­n. Der Turm gehörte zur Edelweiß Fabrik in Schlachter­s. Deshalb errichtete­n die Nationalso­zialisten dort im April 1944 ein sogenannte­s Außenkomma­ndo. Hier wurden sechs bis acht Häftlinge zu Menschenve­rsuchen und Arbeit gezwungen. Jauk war einer der ersten.

„Die sind unter Bewachung gewesen und mussten ins Milchwerk laufen und da schaffen. Und dann wieder Heim“, sagt eine Zeitzeugin, die noch heute in Schlachter­s wohnt. Sie möchte nicht namentlich genannt werden. „Heim“bedeutete für die Häftlinge eine kleine Hütte „in einem sehr desolaten Zustand“, schreibt Jauk.

Von der B 308 ist es zu sehen. Es steht zwischen einem Bauernhof und dem Gasthof Sonne. Heute steht darauf ein Neubau. Es ist ein Haus wie jedes andere. Wenn man seine Geschichte nicht kennt, fährt man einfach daran vorbei. Nichts erinnert an das, was darin geschah. Doch im Ort leben noch Menschen, die sich an die Häftlinge erinnern.

„Da haben wir keinen Kontakt gehabt. Das hat man nicht so gewollt“, erinnert sich eine weitere Zeitzeugin aus Schlachter­s. Auch sie möchte ihren Namen nicht nennen. Die SS sei immer wieder im Dorf gewesen. Sie sorgte für Angst unter den Dorfbewohn­ern. Freundlich­e Gesten, ein Gespräch oder Essensgesc­henke der Bevölkerun­g an die Häftlinge seien von der SS direkt bestraft worden. So schaffte es die SS die Häftlinge anfangs komplett von der Bevölkerun­g zu isolieren.

„Die hat man wenig gesehen“, erinnert sich eine der Zeitzeugin­nen. Das in dem Haus etwas vor sich geht, war den Dorfbewohn­ern klar. Was genau, „das hat man nicht so gewusst“, sagt eine Zeitzeugin.

Dort wurde anfangs an den Häftlingen geforscht. Dafür mussten sie das Pektin in Form einer Tablette einnehmen. Danach wurde ihnen im Zehn-MinutenTak­t Blut abgenommen. Dann wurde die Zeit bis zur Gerinnung gemessen.

Anfänglich­e Erfolge brachten die Nationalso­zialisten dazu, weiter zu machen. Nicht in Schlachter­s, aber in Dachau. Dort wurden die Methoden immer brutaler. Häftling Jauk schreibt, dass Gefangenen tiefe Schnittwun­den zugefügt wurden oder mit einem „Reibeisen die Hautf läche am Oberschenk­el vom Fleisch losgerisse­n“wurde.

Die Nationalso­zialisten gingen noch weiter. Sie operierten gesunde Häftlinge. Anderen schossen sie in die Lunge. Dann wurde die Zeit gemessen, bis sie verblutete­n. Um die „Ergebnisse“vergleiche­n zu können, mussten immer zwei Häftlinge die Qualen über sich ergehen lassen – einer mit und einer ohne Tabletten. „Die Versuche waren alles, der Häftling nichts“, schreibt Jauk.

Die Tabletten für die Versuche wurden in Schlachter­s hergestell­t. „Größere Proben aus der Produktion gingen allwöchent­lich nach Dachau“, schreibt Jauk. Die meisten der Häftlinge aus Schlachter­s waren vorher im KZDachau inhaftiert.

Rosmarie Bingger lebte direkt neben dem KZ in Schlachter­s. „Da sie dort die Unmenschli­chkeit und Grausamkei­t kennengele­rnt haben, waren sie heilfroh im Westallgäu zu sein“, sagte die inzwischen Verstorben­e über die Häftlinge in einem Zeitungsbe­richt aus dem Jahr 1999. In diesem wird auch Jauk zitiert. Er spricht darüber, wie mit den Häftlingen in Schlachter­s umgegangen wurde. „Es gab keine Misshandlu­ngen. Auch die Menschen im Ort waren, von mehreren Ausnahmen abgesehen, sehr anständig.“

Das berichten auch die aktuellen Zeitzeugin­nen übereinsti­mmend. „Denen hat man doch nichts gemacht“, sagen sie. Der Kaufbeurer Michael Rauch führte für die Häftlinge den Haushalt. Der gelernte Bäcker habe gekocht, was aus Dachau geliefert und was zusätzlich bei Bauern aufgetrieb­en wurde: „Da mal ein Stück Fleisch von einer notgeschla­chteten Kuh, da mal eines von einem Pferd“, heißt es in einem Zeitungsar­tikel der Lindauer Zeitung von 1985.

Kurz vor Kriegsende, im April 1945, versuchte die SS die Gefangenen von Schlachter­s nach Dachau abzutransp­ortieren. Dort hätte vermutlich der Tod auf sie gewartet. „Ihren Fanatismus und ihren Hass legten sie nicht einmal angesichts der herannahen­den Alliierten ab,“schreibt Jauk.

Doch die Häftlinge wehrten sich. Die Armeen der Alliierten rückten immer näher. Die Zeit des Dritten Reichs ging zu Ende. Die SS-Wachmänner verloren täglich an Macht und Einfluss. Schließlic­h f lohen sie in Richtung Österreich. Jauk und die Häftlinge halfen dabei, die „Übergabe“Lindaus an die Alliierten zu ermögliche­n – ohne einen abgegebene­n Schuss.

Anfang Mai schrieb er mit zwei Überlebend­en einen Brief an die Tochter von Schlachter­s Bürgermeis­ter Hans Stadler. Darin bedanken sie sich für deren Einsatz für die Häftlinge. Durch ihr Eingreifen und entschloss­enes Handeln hätten sie Schlimmere­s verhindert. „Der finstere Rachen des Nazi-Faschismus, der dunkelste, brutalste aller Zeiten hätte uns ebenso durch seine Gasöfen wandern lassen, wie alle anderen Opfer dieses Regimes.“

Der Grazer Widerstand­skämpfer hatte das Regime der Nationalso­zialisten überlebt. Er heiratete die Tochter des Bürgermeis­ters Hans Stadler und zog mit ihr in seine Heimat Graz. Dort verstarb er im Jahr 1995.

Ein besonderer Dank gilt Gallus Halder. Er hat den Kontakt zu den Zeitzeugen hergestell­t. Als Ortspflege­r hat er für die Recherche allen notwendige­n Quellen bereitgest­ellt.

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FOTO: UNBEKANNT Diese Hütte war die „KZ-Außenstell­e“Schlachter­s.
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FOTO: UNBEKANNT Der Widerstand­skämpfer Franz Jauk in Häftlingsk­leidung.

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