Die verschiedenen Gesichter der Angst
Drei Bewältigungsstrategien sind bekannt – Kinder und Jugendliche besonders gefährdet
LINDAU - Jeder Mensch hat vor etwas Angst. Oft steckt die Sorge vor Kontrollverlust dahinter. Stephan Grünewald hat dazu seine Forschungsergebnisse in der Inselhalle vorgestellt. In seinem Vortrag zeigte er, auf welchen Ebenen Angst wirkt und welche Auswirkungen das auf die mentale Gesundheit haben kann.
In der vergangenen Woche tagten in der Lindauer Inselhalle Vertreter der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (KJP). Einer der Referenten war Stephan Grünewald, Gründer des Rheingold Instituts in Köln. Bei seinem Vortrag mit dem Titel: „Mentale Gesundheit – Deutschland zwischen Zuversicht und Erschöpfung“ging es um Ängste. Zwar geht seine Forschung nicht explizit um Kinder und Jugendliche, sie sei aber gut auf diese anwendbar.
Für seine Forschung, sagt Grünewald, legt er die Befragten „zwei Stunden sinnbildlich auf die Psychologen-Couch“. In diesen Gesprächen versuchen er und sein Team vom Rheingold Institut die innersten Ängste der Menschen zu verstehen.
Grundlegend hätten sie zwei Welten der Menschen entdeckt. In der „eigenen Welt“gebe es immer wieder Lichtblicke – Geburtstage, Hochzeiten oder Zeit mit Freunden. Die „äußere Welt“sei momentan aber geprägt von Krisen, Kriegen oder politischem Streit. Das führe zu Angst, die in vier verschiedenen Kreisen wirken kann.
Kontrollverlust innerhalb einer dieser sogenannten Angstkreise
lasse Menschen teils skurrile Dinge tun. Der innerste Kreis ist der „Autonomieverlust“. Menschen hätten Angst, ihre Autonomie oder die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren. In der Corona-Krise habe sich das besonders gezeigt, als einige Menschen das Gefühl hatten fremdbestimmt zu sein.
Sie fingen an, ihre Wohnungen zu putzen, Baumärkte einzurennen oder Klopapier zu horten. So hätten sie das Gefühl gehabt im wahrsten Sinne des Wortes „geschäftstüchtig“oder autonom bleiben, sagte Grünewald. „Selbstmodellierung“nennt er diesen Versuch, Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen.
Beim „sozialen Klima“sei das ähnlich. Hier gehe es um die Menschen im sozialen Umfeld. Wenn dieser Angstkreis angegriffen wird, versuche man auch Kontrolle zurückzugewinnen. Andere, unangenehme Meinungen oder Freunde verbanne man dann aus dem eigenen Leben. So würden immer mehr „Wohlfühl-Oasen“entstehen.
Beim „Substanzverlust“geht es um etwas größeres als das eigenes Umfeld. Die schlechte Infrastruktur, die schlechten Ergebnisse der Pisa-Studie oder das schlechte Abschneiden der Fußball-Nationalmannschaft. All das gebe Menschen das Gefühl den Halt zu verlieren.
Und über alldem schwebe das „Globale Klima“, beziehungsweise die globalpolitischen Probleme: Ein Krieg in der Ukraine, der Nahostkonflikt, oder der Klimawandel. Was fernab der eignen Welt geschieht, habe dennoch enorme Auswirkungen auf das eigene Leben.
Die Studien hätten gezeigt, dass die Menschen versuchen, die Diskrepanz zwischen der eigenen und der äußeren Welt zu verdrängen. Dabei gebe es drei Strategien. Die erste sei der „Ablasshandel“. Beispielhaft könne man sagen: Ich f liege kaum. Mehr kann ich gegen den Klimawandel nicht machen.
Andere würden auf die „Erlösung“hoffen. Löst bald eine Künstliche Intelligenz alle Probleme, schafft es die jüngere Generation, kann ein Sündenbock für die Misere gefunden und verjagt werden? Von letzterem profitiere auch die AfD, sagt Grünewald. Es werde für Probleme immer wieder ein „Schuldiger“gesucht. Das Narrativ: Ist der Sündenbock erst mal verjagt, wird alles besser.
Doch eine Lösung des eigentlichen Problems werde selten angeboten.
Die dritte Option sei das „ästhetische Ein- oder Abtauchen“. So könne man sich ablenken und beispielsweise im Kino in eine andere Welt eintauchen. Dabei verlasse man die eigene Komfortzone – also die Wohnung. Die Entwicklung bei jüngeren Generationen spreche aber eher für ein Abtauchen. Durch Netflix würden Menschen immer weniger das Haus verlassen. Man entwickle sich immer mehr zum „Serientäter“und tauche ab in die eigene Welt.
Vor allem Kinder und Jugendliche seien hier gefährdet. Netf lix und Soziale Medien werden von ihnen mehr genutzt, als von Erwachsenen. Das Abtauchen in die eigenen Dunstkreise werde dadurch nicht nur vereinfacht, sondern auch verstärkt.
All das werde durch ein weiteres Phänomen befeuert. Arbeitende würden am Ende des Tages oftmals nicht sehen, was sie geleistet hätten. Man renne von Meeting zu Meeting, schreibe viele Mails und wisse am Ende des Tages nicht, was eigentlich erledigt wurde.
Ein messbarer Erfolg sei dann nur die körperliche Erschöpfung. Frei nach dem Motto: Ich bin erschöpft, also muss ich heute produktiv gewesen sein. Doch Grünewald sieht einen anderen Ansatz: Unverplante Zeit sei das Stichwort. Um sich von Ängsten und Stress zu lösen, könne es helfen, seine Zeit spontan mit dem zu füllen, was einen im Moment glücklich macht.